Rot-Rot-Grün will Tourismus neu ausrichten

Protest von Gewerbetreibenden in Kreuzberg gegen Verdrängung / Koalitionsfraktionen fordern Konzept ein

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 3 Min.

In der Oranienstraße in Kreuzberg schlägt das Herz des Kiezes. Weit über 100 kleine Geschäfte, von Änderungsschneidereien, Spätkäufen, Buch- und Fahrradläden, aber auch Kneipen, Imbissen und Galerien prägen die Straße, die nicht nur die Anwohner anlockt. Wegen des Flairs kommen auch Touristen aus der ganzen Welt in den Stadtteil.

Am Mittwochabend machten die Gewerbetreibenden mit einer spektakulären Protestaktion auf sich aufmerksam: Über 87 von Ihnen haben sich mit Nachbarschaftsinitiativen wie »Bizim Kiez« oder »Gloreiche« in der Initiative »ORA 35« zusammengeschlossen, um gegen die befürchtete Verdrängung und die Auswirkungen des Massentourismus zu protestieren. Symbolisch wurden dafür in der Zeit von 17 bis 19 Uhr in vielen Läden verhängt. Zugleich wurden Tische und Bänke auf die Straße gestellt, um über die Probleme ins Gespräch zu kommen.

Fakten zum Tourismus

Die Tourismuszahlen wachsen, zwar längst nicht mehr so stürmisch wie in den vergangenen Jahren, aber dennoch beständig: Im ersten Halbjahr 2017 zählte das Statistische Landesamt Berlin-Brandenburg 6,2 Millionen Berlin-Besucher (plus 2,7 Prozent), die 14,7 Millionen Übernachtungen buchten (plus 1,8 Prozent).

Berlins Wirtschaft profitiert von den Besucherströmen so stark wie nie: Der Bruttoumsatz stieg in den vergangenen zwei Jahren um eine Milliarde Euro

auf 11,58 Milliarden Euro pro Jahr. Inzwischen geben die Gäste mehr Geld während ihrer Aufenthalte aus, außerdem schlägt sich in den gestiegene Umsätzen natürlich die höhere Anzahl an Übernachtungen wieder.

Mehr als die Hälfte, nämlich 56 Prozent der Gäste kamen im ersten Halbjahr dieses Jahres aus dem Inland, 44 Prozent aus dem Ausland. Für die Tourismus-Verantwortlichen ist Deutschland deshalb der wichtigste Markt. Ebenfalls angestiegen ist zuletzt auch die Anzahl der Gäste, die zu einem Kongress nach Berlin reisten. Im ersten Halbjahr 2017 kamen 4,96 Millionen sogenannte Kongress- und Fachbesucher in die Stadt. mkr

Durch die Besucherströme, die insbesondere an den Wochenenden nach Kreuzberg kommen, ist das Gebiet auch für große Investoren immer attraktiver geworden. Immobilienfonds kaufen ganze Häuserzeilen auf und versuchen Profit aus der beliebten Gegend zu ziehen. »Mit der Verdrängung von ansässigem Gewerbe und der Verödung innerstädtischer Kieze muss endlich sein«, sagt die Tourismusexpertin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Katalin Gennburg. Um die Verdrängung von Kleingewerbe zu beenden, bedürfe es neben einem Umdenken in der Stadtentwicklungspolitik eben auch einer Kehrtwende in der Tourismuspolitik.

»Das Tourismuskonzept Berlins wird hinsichtlich eines langfristig stadtverträglichen und nachhaltigen Tourismus aufgestellt und mit einem zielorientierten Maßnahmenplan unterlegt, hieß es bereits im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag. Im Senat ist federführend Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) für die Erstellung eines solchen Konzeptes zuständig. Zuletzt hieß es, das Konzept solle bis zum Frühjahr 2018 fertig sein.

Die Koalitionsfraktionen von SPD, LINKE und Grüne machen nun bei dem Thema mehr Druck. «Wir wollen qualifizieren, in welche Stoßrichtung das Konzept geht», sagt die Grünen-Abgeordnete Katrin Schmidberger. Das gehe vom Hotelentwicklungsplan bis zu mehr Sauberkeit in der Stadt. Ganz wichtig sei auch, die Kiezverträglichkeit. An diesem Donnerstag bringt das Mitte-links-Bündnis deshalb einen Antrag ein.

Der Titel: «Neues Berliner Tourismuskonzept für einen stadtverträglichen und nachhaltigen Tourismus». In dem Antrag wird auch ein Maßnahmenplan eingefordert, der das Handeln des Landes und der Bezirke beim Tourismus bestimmen soll. Kernpunkte sind dabei: Das Tourismusmarketing solle neu ausgerichtet werden, Bürger und Anwohner sollen besser beteiligt werden. Außerdem sollen durch ein Monitoring die Besucherströme besser verteilt und die Arbeitsbedingungen in der Tourismuswirtschaft verbessert werden. «Dies wird nur der Anfang einer ausführlich zu führenden Debatte sein», sagt die Linkspartei-Abgeordnete Katalin Gennburg.

Karola Vogel von der tourismuskritischen Initiative «Anrainer» aus Friedrichshain fordert ebenfalls, dass die Bürger bei dem Konzept mitbestimmen dürfen. Dass das geschieht, bezweifelt sie allerdings. «Nach den bisherigen Erfahrungen befürchte ich, dass das nicht geschehen wird.»

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