Das zerstörerische Gen des Homo economicus

Eine Kampfansage von Bruno Latour an postfaktische Politiker und renitente Klimaskeptiker

  • Gerhard Klas
  • Lesedauer: 4 Min.

Gaia ist eine Figur aus der griechischen Mythologie, eine Göttin, die die Erde verkörpert. Ihr Problem: Sie ist von einer Krankheit befallen, die Menschheit heißt. So könnte man eine Grundthese des Buches »Kampf um Gaia« von Bruno Latour skizzieren. Der Philosoph und Wissenschaftssoziologe ist dennoch kein Misanthrop. Der mehrfach ausgezeichnete Franzose, unter anderem mit dem Kulturpreis der Münchner Universitätsgesellschaft, gehört zu den einflussreichsten, intelligentesten und gleichzeitig populärsten Vertretern der Wissenschaftsforschung.

Die Trennung zwischen Mensch und Natur aufzuheben ist ein Anliegen, das Latour seit Jahren verfolgt. Erneut beklagt er nun nachdrücklich das zerstörerische Gen, von dem der moderne Menschen in seiner Ausprägung als »Homo economicus« befallen ist. Noch nie, so Latour, sei eine »provinziellere Definition von Menschheit zum universellen Verhaltensstandard erhoben worden«, eine Menschheit, »die sich auf eine winzige Anzahl intellektueller Kompetenzen reduziert, versehen mit einem Hirn, das ihn nur zu den einfachsten Rendite- und Konsumkalkül befähigt«.

Die oft komplexen und assoziativen Gedankengänge Latours entbehren nicht der Ironie, ja bisweilen bitterer Polemik. Aber das ist nachvollziehbar, je weiter man in der Lektüre vordringt. Es geht um das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, das Naturverständnis moderner und vormoderner Gesellschaften, für das er auf Beispiele aus Theater, Literatur, Film, Geschichte und Politik zurückgreift.

Zentraler Beleg für die »tiefe Mutation unserer Beziehung zur Welt« ist für Latour die Klimaerwärmung, die mit der industriellen Lebensweise einhergeht. Sie wird, da ist sich der Wissenschaftssoziologe sicher, schlimmere Folgen zeitigen als der Zweite Weltkrieg. Ebenso wie im »Dritten Reich« die brutale Diktatur bis zum totalen Zusammenbruch fast ungestört weiter funktionierte, gelte gleiches auch für die Fortdauer des Klimaregimes, das auf der Ausbeutung fossiler Energieträger und einem hemmungslosen Extraktivismus gründet. Eine Mischung aus Verblendung, Macht- und Profitgier wohnt vor allem der besonders renitenten Haltung vieler Klimaskeptiker inne, die in wichtigen westlichen Staaten die Regierungsgeschäfte lenken. Eine Haltung, die Latour an anderer Stelle mit der abwehrenden Reaktion der Inquisition vergleicht, als Wissenschaftler wie Kopernikus und Galilei entdeckten, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt.

Als Beleg für die Irrationalität zitiert Latour nicht nur historische Vergleiche, sondern aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse: Zu 98 Prozent bestehe wissenschaftliche Klarheit darüber, dass die Erderwärmung menschengemacht sei. Die von vielen Wissenschaftlern geführte Debatte um das Erdzeitalter des »Anthropozän« unterstreiche, dass die Menschheit zum geologischen Faktor geworden ist. Und die Naturwissenschaften zu einem wichtigen politischen Faktor. Um so mehr regt sich der streitlustige Autor darüber auf, dass sich viele Naturwissenschaftler von postfaktischen Politikern und solchen, die globale Krisen gerne aussitzen, immer wieder mit dem Argument in die Grenzen weisen lassen, sie hätten sich politisch neutral zu verhalten. Aber eine distanzierte und unbeteiligte Haltung der Wissenschaft sei angesichts der Dringlichkeit der Lage obsolet.

Die Ignoranten haben der Vernunft jedoch längst den Krieg erklärt. Deren Kriegslogik ist offensichtlich: Da die schiere Beschreibung der Fakten Vorschriften für die Politik so gefährlich nahe komme, so Latour, werden die Fakten selbst in Zweifel gezogen, um die Infragestellung der fatalen industriellen Lebensweise zu stoppen. Dem wiederum müssen die Vernünftigen den Krieg erklären. »Sagt euren Herren, dass die Wissenschaftler auf dem Kriegspfad sind«, zitiert Latour wohlwollend aus einem Theaterstück.

Dieses Buch liefert wichtige Denkanstöße eines empörten Wissenschaftlers, der sich nicht in die Ecke zynischer Kommentatoren abschieben lassen will, sondern seine Kolleginnen und Kollegen und alle, die seine Sicht teilen, dazu aufruft, in die Offensive zu gehen. Latour will das Unvorstellbare vorstellbar machen: den Bruch mit dem Wachstums- und Technikglauben der Moderne. Es könne doch nicht sein, schreibt er, dass es heute leichter ist, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.

Bruno Latour: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime. A. d. Franz. v. Achim Russer und Bernd Schwibs. Suhrkamp, 522 S., geb., 32 €.

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