Ein illusionsloser Tatsachenblick

Christina Morina fragte sich, wie der Marxismus die Welt erobern konnte

  • Martin Hundt
  • Lesedauer: 4 Min.

Schon im Titel dieses ambitionierten, forsch vorgehenden und fleißig recherchierten Werkes steckt eine doppelte Provokation: Weder verwendeten Marx und Engels selbst den Begriff Marxismus (es hätte zum Thema gehört, ihre diesbezüglichen ablehnenden Argumente wenigstens kurz darzulegen), noch handelte es sich im theoretischen und praktischen Wirken der dargestellten Vertreter der europäischen Arbeiterbewegung des letzten Drittels des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts um eine bewusste »Erfindung« des Begriffs Marxismus. Sondern um das ambitionierte Bemühen solch aktiver und theoretisch interessierter Männer wie Guesde, Jaurès, Bernstein, Kautsky, Adler, Plechanow, Struve und Lenin sowie einer Frau, Rosa Luxemburg, einige Erkenntnisse aus den Werken der beiden sozialistischen Vordenker in ihrem eigenen politischen Wirken anzuwenden. Wer die großen Differenzen und scharfen Polemiken einiger der genannten Autoren auch nur annähernd kennt, weiß, dass es sich hier keinesfalls um ein »Autorenkollektiv« handelte, welches stringent das Ziel verfolgte, einen neuen zentralen Begriff zu inaugurieren. Die »Erfindung« macht erst Christina Morina.

Es ist erklärungsbedürftig, warum die Autorin Lenins Texte »Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus« sowie »Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx« nicht erwähnt, die unabdingbar zum Thema ihres Buches gehören und in denen am deutlichsten ihr eigener Grundgedanke einer »Erfindung« des Marxismus aufscheinen könnte. Dass diese ausgelassen wurden, ist wohl als Indiz dafür zu werten, dass jene nicht das aussagen, was Christina Morina von ihnen erwartete.

Wenn man sich der großen Herausforderung der Aneignung der Werke von Marx und Engels zum Zweck ihrer Anwendung im praktischen politischen Kampf stellt, ist es unerlässlich, die Grenzen exakt zu benennen. Und natürlich können auch in diesem Buch nicht alle seinerzeit Beteiligten behandelt werden; so fehlen hier, um nur einige zu nennen, Harney, Lafargue, Longuet, Varlin, Wilhelm Liebknecht, Bracke, Bebel, Clara Zetkin, Mehring. Auch konnten nicht alle Länder untersucht werden, die ebenfalls involviert waren, als (so der Untertitel) »eine Idee die Welt eroberte«, wie Italien, Spanien, die USA und andere mehr.

Und es kommt noch eine bedeutende, von der Autorin außen vor gelassene, aber zu beachtende Tatsache hinzu: Wenn von Marxismus die Rede ist, muss es um das Gesamtwerk von Marx und Engels gehen. Die Protagonisten von Christina Morina kannten aber nur wenige »Grundwerke«, hauptsächlich das Kommunistische Manifest und den ersten Band des »Kapitals«. Die Reduktion eines Denkers oder einer Denkrichtung auf »Grundwerke« ist aber in jedem Fall irreführend und riskant. Wie die Geschichte nicht nur im Fall von Marx und Engels eindringlich zeigt, führt dies zwangsläufig zu Einseitigkeiten oder sogar Dogmatismus.

Auch wir Heutigen kennen dieses Gesamtwerk angesichts des zu langsamen Fortgangs der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) nicht. Ohne den vollständigen Briefwechsel, vor allem ohne die Kenntnis von Marxens Exzerpten, ist ein wirkliches Verständnis seines Forschungs- und Erkenntnisprozesses nicht möglich. Von diesen Exzerpten - die übrigens auch in den vielen gegenwärtigen Marx-Biografien fast keine Rolle spielen - konnten die im Buch von Christina Morina behandelten Arbeiterführer vor weit über 100 Jahren aber nicht einmal eine Ahnung haben.

Wenn man in der angenehmen Atmosphäre des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam sitzt (der Rezensent kennt sie gut) und dort mit interessanten Materialien geradezu überschüttet wird, kann es geschehen, dass man vom eignen Anfangskonzept etwas abkommt und sich in vielen Einzelheiten verliert. Dieser Gefahr ist Christina Morina nicht entgangen. Aber vielleicht liegt gerade darin der weiterwirkende Kern ihres Buches, denn ihr eigener »Schluss« ist ein konzentrierter Angriff auf alle realen Versuche, die »Lehren« von Marx und Engels zu verwirklichen. Sie hätten im 20. Jahrhundert »viel öfter als totalitäre Versuchung denn als humaner Versuch« geendet. Und überhaupt sei »es höchste Zeit, die ausgetretenen Pfade sowohl des Marxismus als auch der allgemeinen politischen Ideengeschichtsschreibung zu verlassen und die Entfaltung dieser Weltanschauung aus einer erfahrungsgeschichtlichen Perspektive zu beleuchten«.

Wie diese konkret aussehen könnte, erfährt der ratlose Leser nicht, es sei denn, er solle das vorliegende Buch als Beispiel und Anleitung für eine neuartige Geschichtsschreibung ansehen.

Doch ehe der Leser nun das Buch ärgerlich zuschlägt, liest er den überaus hoffnungsvollen letzten Absatz auf der letzten Seite, wo es heißt, »das politische Denken und Handeln der Protagonisten erschöpfte sich nicht in individueller Selbstlosigkeit und schlichter Empathiefähigkeit - vielmehr galten diese Eigenschaften als völlig unzureichend, wenn nicht hinderlich -, sondern beruhte auf einem besonderen, an einen illusionslosen ›Tatsachenblick‹ und ›wissenschaftlichen‹ Erkenntniswillen gebundenen Selbst- und Sendungsbewusstsein. Darin folgten die Epigonen nicht nur den Ideen, sondern auch den wachen, neugierigen, kritisch-weltbezogenen und dabei stets betont nüchternen Charakteren der beiden Namensgeber ihrer Weltanschauung. Nicht zuletzt enthielt die außergewöhnliche politische Freundschaft zwischen Marx und Engels, die von der steten beiderseitigen Verstärkung ihres weltverändernden Selbstvertrauens lebte, bereits jene bemerkenswerte Mischung aus ›wirklicher‹ Selbst- und Weltbezogenheit, die den Marxismus als politisches Engagement im ausgehenden 19. Jahrhundert kennzeichnete und weit über das Jahrhundert hinaus enorme Anziehungs-, Gestaltungs- und Zerstörungskräfte entfalten sollte.«

Damit könnte das Buch eigentlich noch einmal von vorne, neu beginnen.

Christina Morina: Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte. Siedler Verlag, 592 S., geb., 25 €.

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