Szenisches Best-of-Konzert

Heiner Kondschaks Schauspielmusical »Rio Reiser. König von Deutschland« in Potsdam

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Welt schaut rauf zu seinem Fenster - aber da ist Rio Reiser schon tot. Die Welt, das ist der Saal des Hans-Otto-Theaters, das Fenster, das ist der große rechteckige Kasten im Bühnenhimmel, und Reiser, das ist der umwerfende Schauspieler Moritz von Treuenfels. Im Weißlicht steht er da oben, auf seiner Wolke, und singt aus voller Seele Reisers Abschiedslied »Junimond«, während unten auf dem Bühnenboden Rios Weggefährten dessen letztem Liebhaber kondolieren. Die Welt ist hingerissen. Andächtig summt und singt das Publikum mit: »Es ist vorbei, bye bye.«

Es fehlen in diesem Moment, dem drei Stunden außergewöhnliches Theater vorausgingen, eigentlich nur noch die Feuerzeuge, und der Eindruck, sich nicht in einem Schauspielhaus, sondern in einer Konzerthalle zu befinden, wäre perfekt. Nicht fehlen wird eine Zugabe nach dem frenetischen Schlussjubel.

Frank Leo Schröder hat Heiner Kondschaks Stück »Rio Reiser. König von Deutschland« inszeniert, dessen Bezeichnung als »Schauspielmusical« nicht falsch ist, aber trotzdem in die Irre führt. Denn was das Publikum an diesem Abend von Anfang an in Wallung bringt und schließlich von den Sitzen reißt, ist mitnichten die anhand bezeichnender Bruchstücke erzählte Biographie des charismatischen Musikers, es ist einzig und allein dessen in jeder Hinsicht bewegende Musik. Wie es Juan M. V. Garcia (musikalische Leitung) und dem Potsdamer Ensemble gelingt, sich die Schönheit und Eigenheit, die Wucht und Tiefe dieser Lieder zu eigen zu machen, das ist das wahrhaft Begeisternde an dieser Aufführung: ein szenisches Best-of-Konzert mit Reiser-Songs aus drei Jahrzehnten, arrangiert in einer durchdachten Mischung aus krachendem Rock und wehmütigem Schlager, aus mehrstimmigem Chorgesang und dezentem Rap.

Nicht dass der Abend keiner Dramaturgie gehorchen würde, im Gegenteil. Er ist so klar und vorhersehbar gebaut, dass es keinerlei Mühe macht, ihm zu folgen. Von der Aufnahme des verträumten Teenagers in seine erste Band über die explosive Ton-Steine-Scherben-Melange aus gelebter Utopie, Musik und Straßenkampf im Westberlin der späten 60er und frühen 70er Jahre, weiter über den wuchernden Verdruss an politischer Vereinnahmung, die hohe Verschuldung der Band und schließlich den Rückzug aufs Land bis hin zu Reisers Solokarriere, die ihn zum Popstar, zum einsamen »König von Deutschland«, aber eben auch zum singenden »Sprachrohr« der PDS werden ließ, setzt sich hier ein Leben zusammen, als sei es ein Puzzlespiel mit nummerierten Teilen. Die O-Töne zu all den einzelnen Szenen kommen aus dem Off und stammen aus Reisers Autobiographie.

Von der Musik einmal abgesehen - was in diesem Fall, wie gesagt, unmöglich ist -, fühlt sich das Stück ein bisschen so an wie ein in Szene gesetzter Wikipedia-Eintrag. Das ist umso bedauerlicher, als sich in Reisers Biographie mindestens zwei Konflikte auftun, die einer echten Tragödie zur Ehre gereichen würden. Zwar wird der Widerspruch durchaus dargestellt, der sich auftut zwischen dem kollektivistischen Selbstverständnis der Gruppe auf der einen Seite und der durch nichts zu bändigenden Individualität des Künstlers, des Menschen, des Genies Rio Reiser auf der anderen - hier aber bleibt er bloßes Ereignis, das man hinnimmt, statt seine Spannungen für das Theater und den Geist fruchtbar zu machen. Dasselbe gilt für den Schwamm, der das System Kapitalismus ist: Zwar sieht und hört man, wie der Markt im Laufe der Zeit die rebellische Kraft aus der Musik saugt und dabei auch noch wollüstig schmatzt - das dramatische Potenzial dieses Vorgangs aber wird schlicht übersehen.

Stattdessen lebt der szenische Teil des bunten Abends vor allem von komödiantischer Überzeichnung: Wenn sich die Sprecher diverser K-Gruppen um die politische Deutungshoheit - und die Gunst der Scherben - reißen, reißen sie Rio und einander das Mikro aus der Hand. Wenn später auf dem Höhepunkt der Bandkrise die Managerin Claudia Roth in bemühter Gefasstheit ein Tourneeangebot des Konzertveranstalters Fritz Rau entgegennimmt, bricht ein ohrenzerfetzendes Glückskreischen aus ihr heraus, sobald der Telefonhörer wieder auf der Gabel wackelt. Wenn schließlich die Presse sich auf den Solokünstler stürzt, rundet das Reiser-Lied »Alles Lüge« das Bild jenes Journalismus ab, der hier aufs Korn genommen werden soll.

Es gibt aber auch Szenen von großem Ernst und berührender Zärtlichkeit. Die eindrucksvollste ist Reisers Bekenntnis zu seiner Homosexualität gewidmet: Da wird die keinen Meter breite Lücke zwischen ihm und dem Mann, den er insgeheim liebt, plötzlich zur winzigen Kammerbühne, und die Hände der nebeneinander auf der Treppe Sitzenden werden momentlang zu den unangefochtenen Hauptdarstellern. Schüchtern tastend nähern sie sich einander an, bis es endlich zur ersehnten Berührung kommt, während Moritz von Treuenfels und Friedemann Petter den Scherben-Song »Schlaf bei mir« singen.

Das zehnköpfige Ensemble, acht Männer, zwei Frauen, setzt sich aus Schauspielern und Musikern zusammen, ohne dass man auf Anhieb sagen könnte, wer nun zu welcher Berufsgruppe zählt. So wie die professionellen Mimen sich als großartige Sänger (und teils auch als formidable Instrumentalisten) erweisen, schlüpfen der Drummer (Daniel Klein), der Bassist (Daniel Splitt), der Leadgitarrist (Marc Eisenschink) und der Keyboarder (Voice-of-Germany-Teilnehmer Friedemann Petter) singend und sprechend in diverse Rollen. Die enge Verflechtung von Musik und Szene ist auch im Bühnenbild (Matthias Müller) erfasst: Die Instrumente der Band stehen raumgreifend am Rand, aber gleichsam doch mitten im Wohnzimmer der musizierenden Kommune.

Als Titelheld wurde mit Moritz von Treuenfels ein schmächtiger, jungenhafter Mann besetzt, dem das Auge zunächst nicht zutrauen will, einen in all seiner ungebrochenen Gebrochenheit so charismatischen Charakter wie Rio Reiser glaubhaft zu verkörpern. Welch Irrtum! Wollen Treuenfels’ biegsam ironische Bewegungen zuweilen auch nicht recht zu seiner Figur passen (sondern besser vielleicht zum frühen Udo Lindenberg), so schwinden alle Zweifel, sobald der Kerl seinen Mund auftut. Dieser Schauspieler, der das Klavier und die Gitarre perfekt beherrscht, verfügt über ein Organ, das dem melancholischen Reiser so gerecht wird wie dem wütenden, und über eine Musikalität, die schlicht staunen macht. Treuenfels’ Stimme, die derjenigen Rio Reisers in ihrer Lage und ihrem Timbre unglaublich nahe kommt, ohne sie zu imitieren, weiß selbst die Reiser-typischen, Berlin-spezifischen Zisch- und Gaumensegellaute auf den Punkt genau zu verschleifen.

Heiner Kondschak, der Schöpfer dieses Reiser-Requiems, ist zugleich Initiator und Kopf der vor 17 Jahren am Tübinger Landestheater gegründeten Randgruppencombo, die seither das musikalische Erbe des Lausitzer Liedermachers Gerhard Gundermann auf ihre Weise pflegt und erschließt. Reiser starb 1996, Gundermann zwei Jahre später - beide mit Mitte 40. In Kondschaks produktiver Leidenschaft für diese beiden Musiker, die auf den ersten Blick mehr trennte als verband, offenbaren sich wesentliche Gemeinsamkeiten: das hörbare Herzblut, die politische Poesie, die gegen den eigenen Körper rücksichtslose Verausgabung.

Wer Zeuge der Dreharbeiten zu Andreas Dresens Gundermann-Spielfilm werden durfte, der 2018 ins Kino kommt, berichtet erschüttert von der scheinbaren Wiederauferstehung des Sängers in Gestalt des Schauspielers Alexander Scheer. Sollte demnächst auch ein Reiser-Film entstehen, wäre beim Casting kein Vorbeikommen an Moritz von Treuenfels.

Alle Dezember-Vorstellungen sind ausverkauft. Spieltermine 2018: 1. und 14. Januar, 3., 18., 23. und 26. Februar.

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