Ein Alp für alle Linken

Kritik des Stalinismus

  • & Günter Meisinger
  • Lesedauer: 2 Min.

Und es gab sie doch: die von Marxisten selbst geübte scharfe Kritik am Stalinismus, und zwar von dessen Anfängen an, und nicht erst seit dem 20. Parteitag der KPdSU 1956. In Ost wie West immer unterschlagen, denn hier wie da haben die Herrschenden Antistalinismus als Antikommunismus verstehen wollen, aber keinesfalls als Nachweis, dass dieser »Alp auf den Hirnen auch unserer Gegenwart« ein Bruch mit dem Marxismus und jeglichem emanzipativen Sozialismus war und ist. Mit dieser Feststellung, von dem unter Stalin hingerichteten bulgarischen Revolutionär Christian Rakowski bereits 1928 in einem Artikel unter der Überschrift »Die Ursachen der Entartung von Partei & Staatsapparat« formuliert, beginnt das Buch von Christoph Jünke.

Daran schließt sich der klarsichtige Beitrag »Von Lenin zu Stalin« von Victor Serge an. Dessen »Erinnerungen eines Revolutionärs« sollten Pflichtlektüre aller Linken sein. Es folgen drei spannende Aufsätze von Leo Trotzki über den Charakter der UdSSR sowie von Leo Kofler zum Wesen der stalinistischen Bürokratie. Natürlich fehlen auch nicht der Trotzkist Ernest Mandel sowie der Trotzki-Biograf Isaac Deutscher, ebenso wenig der britische Historiker Edward P. Thompson. Weitere von Jünke zur erneuten Lektüre angebotene Autoren sind unter anderem der Franzose Henri Levebre, der Österreicher Roman Rosdolsky, der einst in Polen eingesperrte bekannte Dissident Jacek Kuron sowie als jüngster der hier versammelten Stalinkritiker Boris Kagarlitzki, Dissident aus Sowjet- und postsowjetischen Zeiten. Sie alle gehören selbstredend in ein Buch über marxistische Stalinismuskritik. Unpassend hingegen erscheinen Lucio Colletti, der von der KPI zur Partei von Silvio Berlusconi gewechselt ist, Rudolf Bahro, der sein Hofgut Pommritz von Ein-Euro-Jobbern des Arbeitsamtes besorgen ließ sowie Oskar Negt, der 1998 Mitglied des Beraterstabs von Gerhard Schröder war. Allerdings sind deren hier abgedruckte Texte durchaus interessant.

In Jünkes Buch werden Fragen diskutiert wie die, ob es sich beim Wechsel von Lenin zu Stalin um einen Bruch gehandelt hat oder eher um eine Kontinuität, ob der Stalinismus Antipode des Sozialismus war oder ein Krebsgeschwür dessen. Schön wäre es gewesen, wenn der Herausgeber Texte von Alexandra Kollontais »Arbeiteropposition« sowie den »Dezisten« (demokratischen Zentralisten) aufgenommen hätte, die bereits 1926, Jahre vor den Trotzkisten, den Aufbau einer neuen, wahrhaften Kommunistischen Partei gefordert hatten.

Christoph Jünke: Marxistische Stalinismus-Kritik im 20. Jahrhundert. Eine Anthologie. Neuer ISP Verlag, 616 S., geb., 24,95 €.

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