Hitler und kein Ende

Volker Elis Pilgrim: Wie ein feiger, introvertierter junger Mann zu einem »befehlenden Serienkiller« wurde

  • Peter L. Zweig
  • Lesedauer: 4 Min.

Volker Elis Pilgrim (geboren 1942) gehörte von den 1970ern bis Mitte der 1990er Jahre zu den erfolgreichsten Sachbuchautoren der BRD; Titel wie »Der Untergang des Mannes«, »Muttersöhne«, »Adieu Marx« und »Vatersöhne« wurden zu Bestsellern und führten zu Debatten unter Lesern und im Feuilleton. Immer wieder bezog Pilgrim in seine psychoanalytischen Untersuchungen die eigene Familiengeschichte ein. Er stammt aus einer brandenburgischen Adelsfamilie, seine Eltern waren überzeugte Nazis und mit Hermann Göring gut bekannt. 1960 flohen sie aus der DDR in die Bundesrepublik, den 18-jährigen Sohn nahmen sie gegen seinen Willen mit.

In den 1970er Jahren trennte sich Pilgrim von seiner Familie, konsequent bis zum Namens- und Erbverzicht. Er studierte Jura (mit der Fachrichtung Kriminologie), aber auch Soziologie, Musik sowie Film- und Theaterwissenschaft und promovierte an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt am Main, bevor er sich der Psychoanalyse zuwandte. Die von ihm bevorzugte Methode der Biografie-Arbeit, auch Bioanalyse genannt, wendet Pilgrim in seinem neuen Buch nun auf Adolf Hitler an.

Er begründet seinen Schritt, den rund 120 000 in der Deutschen Nationalbibliothek verzeichneten Schriften über Hitler eine weitere hinzuzufügen, wie folgt: »Die Toten werden mit historischen Wahrheiten nicht wieder aufgeweckt, aber die Lebenden und vor allem die Nachgeborenen von einer Volksneurose befreit. Unklarheit über Hitler heißt, in der Krankheit zu verharren, in die dieser Mann Deutschland gestürzt hat. Für das Zusammenwachsen Europas ist es gefährlich, wenn das in der Mitte liegende wirtschaftlich und politisch mächtige Deutschland psychisch schwächelt, weil es an seiner Geschichte krank bleibt.«

Oder anders ausgedrückt: Wenn klar ist, wer Hitler wirklich war und was ihn zu seinen Taten getrieben hat, werden wohl nur noch völlig Verrückte ihn und seine Kopfgeburten als Alternative für Deutschland betrachten. Dann legt Pilgrim los, und er arbeitet sich im wahrsten Sinne des Wortes an Hitler ab, wobei ihm seine Vorbildung - deshalb die ausführliche Einleitung - in verschiedener Hinsicht hilft. Ausgangspunkt ist eine Aussage der Schauspielerin Marianne Hoppe, die von Hitler zu einer privaten Vorführung des Luis-Trenker-Films »Der Rebell« eingeladen war und beobachtet, wie ihr Gastgeber während einer Szene, in der massenhaft Menschen getötet werden, heimlich onaniert. Auch andere Zeitzeugen bestätigen, dass Hitler beim Anblick sterbender oder leidender Menschen sexuell erregt wurde.

Haben wir es mit einem Triebtäter zu tun, einem Serienkiller? Das ist der Anfangsverdacht, der nahe legt, Hitlers Sexualität genauer zu untersuchen. Wieder sammelt Pilgrim Aussagen von Zeitzeugen, die darauf schließen lassen, dass Hitler sexuell »low« war, wie es in der Fachsprache heißt. Pilgrim drückt es drastischer aus: Egal, ob hetero- oder homosexuell, »Hitler war kein Ficker«. Was aber hat die Mordlust in ihm geweckt, wenn doch aus seinen Jugend- und Kriegsjahren (in letzteren hätte er seinen Trieb ja ausleben können) keine diesbezüglichen Hinweise vorliegen?

Hier kommt der Titel des Buches ins Spiel: Hitler 1 ist ein introvertierter junger Mann, der gern malt, kaum redet, der sich zwar freiwillig zum Kriegsdienst meldet, aber nicht durch militärischen Eifer auffällt und dementsprechend ein kleiner Gefreiter bleibt. Dann wird er wegen angeblichen Gasbefalls in das Lazarett Pasewalk eingeliefert. Heraus kommt Hitler 2, ein Fanatiker, ein begabter Redner, ein Demagoge, der Massen begeistert und manipuliert. Pilgrim geht davon aus, dass der ärztliche Kunstfehler eines Militärpsychiaters die unterdrückte Mordlust in Hitler geweckt hat, vermutlich durch Hypnose. Doch geblieben ist die Feigheit, Hitler tötet nicht selbst, sondern wird zu einem »befehlenden Serienkiller«.

Ein solcher bleibt er bis zum Schluss, noch im April 1945, als er politisch und militärisch längst verloren hat, ist ihm nur eines noch wichtig: dass das Töten weitergeht!

»Das sexuelle Niemandsland«, der erste Band von Volker Elis Pilgrims groß angelegter Studie »Hitler 1 und Hitler 2«, bietet keine leichte, aber eine sehr lohnende Lektüre. Was man für Redundanz halten könnte, ist die Akribie des Juristen, der sich auf den Prozess gegen den Serienkiller Hitler gründlich vorbereitet hat und kein Indiz, keine Zeugenaussage weglassen möchte. Einige Themen hat sich Pilgrim für die folgenden Bände aufgehoben, etwa die Frage, inwieweit sich die inzestuöse Beziehung von Hitlers Eltern auf dessen sexuelle Orientierung ausgewirkt hat oder die Aufklärung dessen, was in Pasewalk wirklich geschah. Was Pilgrim ganz sicher weiterführen wird, ist die (stets im Detail begründete) Kritik an der bisherigen Literatur über Hitler. Pilgrim wirf den Autoren Ignoranz und falsche Deutungen der Quellen vor - mal sehen, wer wann wo und wie »zurückschlägt« ...

Volker Elis Pilgrim: Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Niemandsland. Osburg Verlag, 923 S., br., 28 €.

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