Sprechen Sie deutsch!

Gekonnt provokant: Shakespeares »Der Kaufmann von Venedig« am Theater Münster

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Was wir Menschen dem Universum sind, das heißt im Theater: Statisterie. Diese unbekannten Soldaten in fremden Siegen. Hochlobenswerte Mit-Läufer. Im großen Drama der Helden stehen die Statisten für jene schwierigste der Künste, die eine wahre Lebenskunst ist: die Energie des kleinen Maßes, das Selbstbewusstsein der notgedrungenen Bescheidung. Am Theater Münster sorgen elf Statisten für Furore. Stehen nicht auf der Bühne, aber für aufregende Minuten im Zentrum. Und prägen aufführungslang die Atmosphäre.

Doch der Reihe nach. Stefan Otteni inszenierte Shakespeares »Kaufmann von Venedig«. Natürlich wartet in diesem Stück jeder auf den Juden. Auf Shylock. Der ein venezianischer Zins-Zauberer ist, aber wegen seiner Herkunft nie den Machtstatus seiner christlichen Konkurrenten erreichen wird. Nicht erst Patricia Highsmith schrieb, schon William Shakespeare wusste: Venedig kann sehr kalt sein. Und so trägt man in Münster die glänzenden Anzüge der Profiteurskreise.

Durch Zufall aber kann Shylock jetzt den Spieß umdrehen: Er wird den Kaufmann Antonio zu einem Kreditvertrag überreden, bei dessen Nichterfüllung er auf ein Pfund Fleisch aus dem Körper des Kaufmanns bestehen darf. Am Ende freilich wird aus dem Juden - in einem Gerichtsprozess, der eigentlich das blutige Recht Shylocks bekräftigen soll - ein davongejagtes Opfer. Ja, alles läuft in diesem Stück auf den Juden zu. Shylock ist der Kannibale, der in einer professionellen Kälte, die ihn fast zerreißt, seine Messer auspackt, jene Matte ausbreitet, auf die sich Antonio legen wird, und dessen herauszuschneidende Bruststelle markiert. Christoph Rinkes Shylock steht unterm Stress dauernder Strenge. Ein schmales, fast ausgezehrtes Lauern. Dieser Mann hat unzählige Bodyguards - aber unter allen Poren. Wahres Gefühl ist geheime Verschlusssache.

Gewalt antwortet - bitter - auf Gewalt. Da er nun jenen besonderen Schnitt vorbereitet, den er in dieser Welt machen wird, da kämpft das Brüllen in Shylock gegen die Fasson; die Fasson siegt, aber wir sehen, wie das einen Menschen geradezu entstellen kann. Shylock beißt sich im Munde den Schmerz weg wie einen Knochen, die Kiefer malmen diesen Schmerz zu Staub. Der Jude ist Opfer und obsessiver Täter zugleich. Rinke gibt seinem Shylock anklagende Worte wie kurze Zuckungen einer Reitpeitsche - sie ist aber gleichsam nur geliehen, es ist die Peitsche jener Verachtungsrhetorik, die sonst ihn selber striemt. Hart, wie er schließlich niederknien muss, wo er eben noch sein Messer zückte wie ein Zepter. Antonio hängt ihm ein Kruzifix-Kettchen um, als legte er ihm den Henkerstrick an den Hals. Los, Jude, das Vaterunser! Ein erzwungenes »Amen« kann man herauspressen, als kaue man Zyankali.

Peter Sciors Bühne: Da ist der Sternenhimmel; da ist ein muschelrundes Insel-Idyll, wo die reiche Portia ihre Freier prüft; da ist die blanke Vorderbühne: Geschäftsgebaren unter Holbeins Bild vom grabgelegten, verwesenden Jesus. Und aus dem Unterboden hebt sich das Girlie-Zimmer von Shylocks Tochter, die einen Christen liebt: an den Wänden eine orientalische Promi-Plakat-Galerie, als sei die »Bravo« eine arabische Erfindung. Die Religion, das Fremde: die Vielfalt der Welt wie ein Sprengstoff, der Explosionsböden sucht.

Ähnlich der Ringparabel Nathans des Weisen ist des Juden fragende Anklage zu einem Toleranz-Kanon geworden: »Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?« Otteni lässt diesen Text nicht nur bei Shylock - auch der Prinz von Marokko wird ihn sprechen, einer jener Freier, die sich im lustspieligen Teil des Stücks um die Jungmillionärin Portia bewerben. Die Schauspielerin Zainab Alsawah - sie ist auch Jessica, die Tochter Shylocks - spricht arabisch. Daraufhin pöbelt Portias Party-Pulk, und jetzt schlägt sie, die Stunde der erwähnten Statisten. Denn bis auf den zweiten Rang hinauf ist der Unmut auf Rollen verteilt. Da ein Hass-Wort, dort eine andere blöde Bemerkung - Kern der Kommentare aus dem Saal gen Bühne: »Sprechen Sie bitte deutsch!« Erst »bitte«, dann: »gefälligst«.

Alsawah fragt, was auch der Jude fragte: »Hat nicht ein Moslem Augen?« Vereinzelter Applaus, Protest, ein Zuschauer verlässt den Raum, wieder wird applaudiert. Wem? Dem trotzigen Arabisch? Den Aufmischern? Im Publikum ist Unsicherheit spürbar. Und wer waren jene »besorgten Bürger«, die vor Beginn der Vorstellung im Foyer Zettel gegen Überfremdung verteilten? Auch Statisten? Zuschauer sah man eilig, aufgeregt zum Einlassdienst laufen, das Vorkommnis zu melden. Einige nahmen die Zettel entgegen, lasen, gaben sie empört zurück.

Jetzt tritt die Schauspielerin Carola von Seckendorff an die Rampe: mit einer betont gefühlsgedimmten Rede von Thomas Morus aus einer erst kürzlich entdeckten Szene von Shakespeare: »Die Fremden«. Morus redet den wohlgenährten Bürgern Londons ins Gewissen, die sich gegen den Ansturm französischer Flüchtlinge wehren. Wieder Zwischenrufe im Saal, wieder vorgeprobter Groll, wieder Momente der absichtsvoll geschürten Geladenheit. Otteni nimmt frech und frei die Ruhe aus dem Abend, stört die Verabredungsmuster, entzündet (Pausen-) Diskussionen über das Spiel mit akuten Emotionen zur politischen Lage. Er stichelt - mit inszeniertem Volkszorn mitten im Volk der Zuschauer: Immer ist Gaukel auch Täuschung, das Wirkliche nur scheinbar - aber doch wahr.

Kehrseiten-Kunst, wohin die Aufführung den Fokus richtet: Die auf ihrer Liebesinsel Belmont gelangweilt berauschten jungen Leute sind verstehenswerte Aussteiger, aber ebenso Steigbügelhalter der geldgestützten Arroganz. Und jener Christ Antonio, der Shylock erniedrigt, ist bei Christian Bo Salle auch ein unglücklich in Hemmung gefangener Schwuler. Sieh im Feind dich selber, entdecke im Gegner den Bruder, schau in alles Fremde, Andere wie in einen Spiegel.

Es geriet aus deutschen Gründen oft in Vergessenheit, dass »Der Kaufmann von Venedig« auch eine Komödie ist. Auschwitz ist dem Lustspiel in die Parade gefahren. Otteni nun schuf gehörige Bedrängungsmomente, dennoch bürdet er der Inszenierung nicht jenes Zentnergewicht auf, unter dem sie nur auf Knien durch ihre eigene Existenz rutschen könnte. Es gehört zu den Stärken der Aufführung, dass sie kräftig heiter bleibt. Das war in der Vorstellung, die ich sah, besonders auch Maximilian Scheidt vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg zu danken, der kurzfristig für den erkrankten Darsteller des Antonio-Kumpans Bassiano einsprang: herrliche Kapriolen mit dem Textbuch - wie wunderbar ist Theater, wenn es mit der Unsicherheit tanzt, als wäre die ein Wolf.

Und zum Schluss ergreift auch noch Portias Freundin Nessica die anklägerische Wiederholungsschleife auf - wider die Männer: »Wenn ihr uns stecht ...« Das Wort der jungen Frau zur aktuellen Sexismus-Leier. Alles sehr ernst gemeint - und noch ernstgemeinter parodiert. Kunstvoll eben. Otteni inszenierte, als orchestriere er: Das Drama trommelt, der Thriller trompetet, das Lustspiel haut auf die Pauke, die Romanze klimpert auf der Gitarre. So jedenfalls klänge es, wären die Bilder Ton. Ein tiefdunkles Gleichnis mit Sarkasmusglitzer. Gekonnt provokant.

Nächste Vorstellungen am 13. und 14. Dezember

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