Große Geheimnisse
Roman über Resistance
Am Ende des vierten Kapitels von »Das Kapital«, als Karl Marx erklärt, wie aus Geld Kapital wird, beschreibt der große Philosoph eine ganz besondere Szene: Der Geldbesitzer schreite voran in den Produktionsprozess als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folge ihm nach als Arbeiter. »Der eine bedeutsam schmunzelnd und geschäftseifrig, der andere scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigene Haut zu Markt getragen und nichts andres zu erwarten hat als die - Gerberei.«
Im Grunde verkauft nicht nur der Arbeiter in der Fabrik seine Haut, sondern jeder Mensch in der alltäglichen Interaktion untereinander. Jeder gibt ein Stück von sich, von seinem Leben preis, wenn er in Kontakt mit anderen tritt. Die Frage ist nur, wann, wie viel und ob immer aus freiem Willen. So wie die geheimnisumwobene Künstlerin Céleste Salvatori, die kurz vor ihrem 100. Geburtstag einem ihrer Anwälte, dem Juristen Edvard Krieger, ihr größtes Geheimnis anvertrauen will. Die fiktive Resistance-Kämpferin steht im Zentrum von Peter von Beckers gleichnamigem Episodenroman.
Der ehemalige Feuilletonchef des »Tagesspiegels« und Kulturautor lässt »Céleste« in Berlin und Dresden spielen, vor allem aber auf Inseln wie Sylt, Korsika, Japan und der Kanalinsel Guernsey. Es sind Zwischenwelten - nicht ganz Land und nicht ganz Wasser, die er in fünf Episoden beschreibt. So wie die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts, in der von Beckers Roman spielt, eine Zwischenzeit ist. So ist die Welt der Céleste noch die alte Welt des 20. Jahrhunderts, so wie wir sie bis dato kannten, mit all ihren Fortschritten und Katastrophen. Gleichzeitig lässt von Becker eine neue Welt der künstlichen Intelligenz erahnen und bringt damit sein Buch in Japan zu einem jähen Ende. Die Überreste der gegenwärtigen Kultur werden Archäologen Auskünfte über unsere Gesellschaft geben. »Die Gegenwart ist das Pompeji der Zukunft«, so endet folglich auch die Geschichte eines der Ich-Erzähler in von Beckers Roman.
Vor allem aber ist »Céleste« ein Roman über starke Frauen. So sind die Erzähler - seien es der Anwalt Krieger oder der Philosoph Seelenberg - alle Männer. Aber die eigentlich Handelnden, die Protagonisten, sind Protagonistinnen. So die Pornodarstellerin Paolina, die eigentlich Ärztin werden wollte, aber dann ihr Augenlicht verlor. »Wir Blinden kriegen nur einen Samariter, einen Heiligen oder Hässlichen. Der ist nett, umsorgt uns und liebt uns, weil er keine Angst haben muss, dass wir sein Aussehen jemals vergleichen und einfach fortlaufen«, hält sie dem Ich-Erzähler Nikolaus Brunner in der zweiten Episode seine Doppelmoral und falsche Scham vor. Der nennt sich ihr gegenüber lieber Niccolo Fontana, weil sein Name auf italienisch »eindeutig besser« klingt.
So unterschiedlich die verschiedenen Personen zunächst wirken, so geschickt webt von Becker ihre Geschichten in der letzten Episode zusammen. Und über allem schwebt die Frage, wo der Starautor Jonas Hecker abgeblieben ist, der wie vom Erdboden oder besser vom Wal verschluckt ist und am Ende doch wieder in die Welt ausgespuckt wird.
Peter von Becker: Céleste, Mare Verlag, 240 Seiten, 22 Euro
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