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Keine Scham vor der Wahrheit

Ausstellung im Gropius-Bau über Wissenstransfers zwischen Juden, Christen und Muslimen

  • Ronald Sprafke
  • Lesedauer: 6 Min.

Eine rotbraune Koralle wuchert über eine Pergamentseite. Die Beischrift preist sie als »Heil- und Abwehrmittel gegen alles Böse, das die Erde und die Meeresflut trägt«. So außergewöhnlich wie die Wirkung der Koralle ist auch die Geschichte der Handschrift.

Um 68 n. Chr. verfasste der griechische Arzt Dioskurides Pedanius ein pharmakologisches Lehrbuch. In seiner »Materia medica« beschrieb er über 1000 pflanzliche, tierische und mineralische Heilmittel. In den folgenden Jahrhunderten wurde das Werk immer wieder abgeschrieben und aktualisiert. Eine reich illustrierte griechische Ausgabe von Dioskurides’ Lexikon erhielt im Jahr 512 Prinzessin Anikia Juliana in Konstantinopel geschenkt. Nach der Eroberung der Stadt 1204 durch die Kreuzfahrer wurden die Pflanzennamen ins Lateinische übersetzt. Mit der türkischen Einnahme der Stadt 1453 dokumentieren türkische und persische Nachträge die Verwendung des Werkes durch orientalische Ärzte. Im 16. Jahrhundert kam die Pflanzenkunde in jüdische Hände. Hebräische Notizen bezeugen, wie Moses Hamon, jüdischer Leibarzt von Sultan Süleyman I., mit dem Handbuch arbeitete. Sein Sohn verkaufte 1569 den Dioskurides, so gelangte er in die Wiener Hofbibliothek, die heutige Österreichische Nationalbibliothek. Seit 1997 gehört der »Wiener Dioskurides« zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Neben 383 Heilpflanzen beinhaltet der Kodex auch ein anonymes Gedicht, das von den Kräften der den Göttern geweihten Pflanzen - so auch der Koralle - berichtet.

Schon Mitte des 9. Jahrhunderts hatte Johannitius, ein arabischer Arzt und nestorianischer Christ, im »Haus der Weisheit« in Bagdad das Kompendium des Dioskurides ins Arabische übersetzt. Der byzantinische Kaiser Konstantin VII. vermachte um 950 eine griechische Prachtausgabe dem ersten Kalifen von Córdoba, Abd al-Rahman III. Da der Kalif diese jedoch nicht lesen konnte, erarbeitete der griechische Mönch Nikolaus zusammen mit arabischen und jüdischen Gelehrten für ihn eine arabische Edition.

Ein Faksimile der über Jahrhunderte völkerverbindenden Handschrift ist jetzt im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Knapp 100 kostbare Handschriften, Schriftrollen und Drucke aus der Österreichischen Nationalbibliothek und einige medizinische und astronomische Instrumente aus Berliner Sammlungen veranschaulichen, wie das Wissen aus der griechisch-römischen Antike in die europäische Neuzeit gelangte.

Nach dem Zerfall des Römischen Reiches war der lateinischsprachige Westen vom griechischen Osten nicht nur politisch und kulturell, sondern auch für lange Zeit von der Wissenstradierung abgeschnitten. In Byzanz wurde das klassische Erbe noch in Gelehrtenkreisen gepflegt. Deren Sammlung, Bewahrung und Fortführung wurde aber viel mehr noch in dem sich seit dem 8. Jahrhundert rasch vergrößernden arabisch-islamischen Machtbereich betrieben. Eine herausragende Rolle spielte das »Haus der Weisheit« (bait al-hikma), das 825 in Bagdad gegründet wurde. Hier arbeiteten jüdische, christliche, arabische, sabäische, persische und indische Gelehrte zusammen. Das von ihnen angereicherte Wissen gelangte dann im Zuge der arabischen Expansion in das muslimische Spanien, wo Vertreter der drei Weltreligionen sowie verschiedener Kulturen und Sprachgruppen in Zentren des kulturellen und wissenschaftlichen Dialoges einander bereicherten.

In Córdoba, neben Konstantinopel die Metropole Europas, entstand im 10. Jahrhundert eine riesige Bibliothek mit 400 000 Handschriften. In der »Schule von Toledo« erstellten arabische Gelehrte und sephardische Juden Übersetzungen ins Altkastilische, Grundlage für spätere lateinische Versionen. Transkribiert wurden nicht nur antike Texte, sondern auch Werke arabischer Autoren (Averroës/ Ibn Ruschd), persischer (Avicenna/ Ibn Sina) und jüdischer (Maimonides), die nunmehr rasche Aufnahme und weite Verbreitung in den neu entstehenden Universitätsstädten Italiens und Frankreichs fanden.

Die Exposition stellt zunächst die vier wichtigen Schriftkulturen im mittelalterlichen Europa vor: die griechisch-byzantinische, jüdisch-hebräische, arabische und lateinische. Ein byzantinisches Evangeliar liegt neben einem Aristoteles-Text, ein Koran-Fragment neben der hebräischen Bibel. Deutlich wird, Sprache und Schrift sind Voraussetzungen für eine Wissensaneignung in allen Kulturen und Religionen sowie für den Austausch zwischen ihnen.

Sodann wirft die Ausstellung Schlaglichter auf Medizin, Pharmazie, Astronomie und Astrologie. Die Wiener Kuratoren spannen den Bogen von den antiken Autoritäten Hippokrates und Galen hin zu dem in Córdoba lebenden arabischen Arzt Abulcasis. Dessen um das Jahr 1000 verfasstes 30-bändiges Kompendium der Medizin erfuhr vielfache Übersetzungen ins Lateinische und Hebräische. Der Kanon der Medizin von Ibn Sina (lateinisch Avicenna), eines berühmten persischen Universalgelehrten, wurde von Gerhard von Cremona 1170 in Toledo ins Lateinische übertragen. Bis 1500 erschienen 15 Inkunabeln (Wiegendrucke), im 16. Jahrhundert folgten 21 Druckausgaben. Noch im 19. Jahrhundert galt Ibn Sinas Kanon als medizinisches Standardwerk. 1279 war auch eine hebräische Übersetzung erschienen.

In der Astronomie wird die Befruchtung der mittelalterlichen Kulturen durch die antiken besonders deutlich. Hierfür stehen vor allem Aristoteles mit seinen naturwissenschaftlichen Werken (»Physik«) und Ptolemäus, der die seinerzeit vorliegenden Kenntnisse über Erde, Himmel, Planeten und Sterne in seiner »Geographia« und seinem »Almagest« bündelte. Im Eingangssaal der Ausstellung im Gropius-Bau hängt eine überdimensionierte Weltkarte des Ptolemäus, dessen geozentrisches Weltbild schließlich durch die Beobachtungen und Berechnungen von Kopernikus, Galilei, Brahe und Kepler, fußend auf Erkenntnissen arabischer Astronomen, überwunden wurde.

Ein prunkvolles Losbuch (Wahrsagebuch, speziell zur Voraussage von Wetter- und Krankheitsverläufen) zeigt die maßgeblichen Autoritäten in der Astronomie aus mittelalterlicher Sicht. Jeweils »Zwölf Meister« debattieren unter dem Planetenhimmel über dessen Deutung. Eine Seite zeigt die »heidnischen«, also antiken und arabischen, »Auctoritates« (Autoritäten), darunter Aristoteles, Vergil, Seneca sowie Alanus ab Insulis, ein französischer Mönch des 12. Jahrhunderts. Auf der Gegenseite diskutieren Gestalten aus dem Alten Testament, so Salomo, Joseph, David, Abraham, Isaak, Moses.

Den Streit zwischen geozentrischem und heliozentrischem Weltbild dokumentieren anschaulich die Rudolfinischen Tafeln (Tabulae Rudolphinae). Kaiser Rudolf II. hatte den Dänen Tycho Brahe mit der Erarbeitung dieser Sternentafeln beauftragt, der über die Kärrnerarbeit verstarb; sein Werk vollendete sein einstiger Assistent Johannes Kepler. Auf dem Frontispiz erkennt man zwischen Säulen und astronomischen Gerätschaften sechs heftig miteinander debattierende Männer: Meton, Aratos und Hipparchos, griechische Autoren aus dem 5. bis 2. Jahrhundert v. Chr., sowie Ptolemäus, Kopernikus und Brahe. Letzterer fragt, auf Kopernikus blickend und mit der rechten Hand nach oben weisend, zweifelnd: »Quid si sic?« (Was, wenn doch so?)

Es ist ein gewagtes, schwieriges Unterfangen, kulturelle und historische Zusammenhänge und Rezeptionsgeschichten anhand von Handschriften zu erzählen. Dies ist hier gelungen. Wandtafeln mit zusätzlichen Abbildungen erläutern die Exponate, ordnen sie in ihren zeitlichen Kontext ein und geben Auskunft über Hintergründe. Weiterführende Informationen bietet der ausgezeichnete Katalog mit sachkundigen Aufsätzen.

Deutlich wird in der Exposition der intensive Wissensaustausch zwischen Okzident und Orient. Die Ausstellung widerlegt den Mythos vom allein kreativen christlichen Abendland. Das moderne Europa ist undenkbar ohne die heidnischen, antiken Ursprünge wie die Leistungen jüdischer und islamischer Gelehrter. Voraussetzungen für den fruchtbaren Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen dereinst waren Toleranz, Offenheit und Respekt.

Der Ausstellung und dem Katalog sind die um 850 geprägten Worte von Al-Kindi vorangestellt, einem arabischen Philosophen, Mathematiker und Astronomen, die noch heute aktuell anmuten: »Wir sollten keine Scham empfinden, die Wahrheit anzuerkennen und sie zu verarbeiten, egal von welcher Quelle sie kommt, selbst wenn sie uns von früheren Geschlechtern und fremden Völkern gebracht wird.«

»Juden, Christen und Muslime. Im Dialog der Wissenschaften 500 - 1500«; Martin-Gropius-Bau, bis 4. März, Mi. bis Mo. 10 - 19 Uhr; Katalog im Verlag Kremayr & Scheriau, 280 S., geb., 23 €.

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