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Im langen Tunnel der Weltwirtschaftskrise

Hans Weinhengst und sein Wiener Arbeiterroman »Turmstraße 4«

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Liebe in Zeiten der Armut - die könnte trotz allem gelingen. Aber wenn die Armut in Elend übergeht, wenn ringsum die Familien an Arbeitslosigkeit, Krankheit, Wohnungsverlust und Hunger verzweifeln, dann gibt es kaum Auswege. Der österreichische Schriftsteller Hans Weinhengst (1904 - 1945) hat in seinem Wiener Arbeiterroman »Turmstraße 4« dieses Elend, das in Ausweglosigkeit mündet, an den Bewohnern einer Mietskaserne dargestellt. Eine Anklage: In »Stube und Küche« leben dort manchmal drei Generationen einer Familie. In einem Haus mit 76 Wohnungen sind über 300 Menschen untergebracht. Ihre Notdurft verrichten sie auf Außenklos. Solche Wohnungen gab es noch in den 1950er Jahren, auch in Berlin, Leipzig, Hamburg oder München.

Karl Weber lebt mit seinen Eltern, seinen drei Geschwistern und seinem Schwager in einer solchen Wohnung, Martha Groner mit ihrer Mutter und ihrem im Krieg schwer verwundeten und psychisch traumatisierten Vater ein paar Stockwerke darüber. Beide verlieben sich heimlich. Karl ist arbeitslos, wie seine Geschwister ohne Aussicht auf eine Anstellung. Martha hat eine schlecht bezahlte Stellung in einem Büro, die sie im Verlauf der im Jahr 1929 beginnenden Handlung verliert. Die staatlichen Unterstützungen fallen nach und nach fort, die Mieten können nicht mehr bezahlt werden, Obdachlosigkeit droht. Der Bruder von Karl begeht einen Raubüberfall und kommt ins Gefängnis, der Vater von Martha erhängt sich in einer Gefängniszelle, Karls Vater stirbt aus Verzweiflung über seine Arbeitslosigkeit nach 40 Jahren Schufterei. Im Haus prügeln von den Verhältnissen gedemütigte Eltern ihre unschuldigen Kinder. Nirgends Licht am Ende des langen Tunnels der Weltwirtschaftskrise.

Die Liebe zwischen Karl und der attraktiven Martha wird durch einen bessergestellten »Kavalier« auf eine Probe gestellt. Dieser bietet ihr Vorteile und eine Perspektive, sucht aber eigentlich nur seine sexuelle Befriedigung. Karl will aus Verzweiflung auswandern und schafft es - überwiegend zu Fuß - bettelnd bis in die Lüneburger Heide. Als er sein Vorhaben abbricht und nach Hause will, ist seine Mutter gerade unter die Erde gekommen, die Mutter von Martha lebt auch nicht mehr. Beide finden wieder zusammen, gestehen sich ihre ungebrochene Liebe, können aber nur noch gemeinsam sterben.

So traurig endet das Buch, so traurig und ausweglos ist es insgesamt. Kein Funken Humor erlöst den Leser aus der realistisch erzählten Arbeiterelendsatmosphäre. Die wenigen Momente der Hoffnung mit den beiden Liebenden werden von der Wirklichkeit erstickt.

Der Autor hat selbst in ähnlichen Verhältnissen gelebt. Er wurde gegen Ende des Krieges noch als Sanitäter zwangsverpflichtet und kam in den letzten Kriegstagen in Berlin ums Leben. Er war der Arbeiterbewegung verpflichtet und lebte in der Hoffnung, die Kunstsprache Esperanto könnte dazu beitragen, die internationale Arbeitersolidarität zu stärken. Wenn sich doch die Menschen ohne Sprachbarrieren verständigen könnten!

Seinen Roman »Turmstraße 4« hat er konsequenterweise auf Esperanto geschrieben - eines der wenigen Zeugnisse der in dieser Sprache geschriebenen Literatur. Vielleicht ist es aber eine Illusion, mit einer Kunstsprache, die für alle eine weitere Fremdsprache wäre, die Verständigungsbereitschaft der national zersplitterten und gegeneinander aufgehetzten Arbeiterschaft zu verstärken.

Die fehlende Bereitschaft der vom Elend geschwächten Menschen aus der Wiener Turmstraße 4, sich kämpfend gegen ihre Entwürdigung zu stellen, verstört an diesem tieftraurigen Roman, ist aber zugleich eine realistische Darstellung der empörenden Verhältnisse.

Hans Weinhengst: Turmstraße 4. Roman. Aus dem Esperanto von Christian Cimpa und mit einem Nachwort von Kurt Lhotzky. Edition Atelier, 308 S., geb., 22 €.

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