Kaleidoskop des Krieges

In der Videoinstallation »Kriegskinder« erzählen 16 Zeitzeugen von ihrer Kindheit im Jahr 1945

  • Samuela Nickel
  • Lesedauer: 5 Min.

Acht Gesichter blicken in die Runde. Die Haare der Berichtenden sind schon längst grau und weiß geworden, um die Augen und Mundwinkel herum haben sich Falten angesammelt. In der Videoinstallation »Kriegskinder« reisen Geschichten von Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges wie eine Flaschenpost aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Die Bildschirme sind in einem Halbkreis angeordnet, aufgestellt sind sie zwischen den Backsteinbögen der Alten Feuerwache in Friedrichshain. Vor schwarzem Hintergrund sitzen hier Berliner Senioren und Seniorinnen und erinnern sich an das Jahr 1945. »Kriegskinder« zeigt Menschen, die kurz vor oder während des Krieges geboren wurden und die Wirren und die Gewalt dieser Zeit erleben mussten. 1945 waren sie zwischen sieben und siebzehn Jahre alt.

Die Geschichte von den Kriegskindern beginnt mit: Spielen. Kindheitserinnerungen an »Himmel und Hölle«, an Kastanienblüten und den Schulhof. Doch auch in den unschuldigen Geschichten schimmert bereits das Grausame der sie umgebenden Welt durch: Männer in SS-Uniform, Schläge, Hitlerjugend, Ausgrenzungserfahrungen. Gewalterfahrungen treffen auf kindliche Unschuld und kontrastieren miteinander. »Ich weiß nicht, wie Menschen so werden konnten... Sich so aufhetzen zu lassen und dieser Nazihetze zu glauben«, wundert sich der 1927 in Krefeld geborene Kurt Gutmann in einem der Filmausschnitte.

Die minutenlangen Videosequenzen mit den einzelnen Erzählsträngen sind so zusammengeschnitten, dass der Zuhörende den Kopf im Halbkreis drehen muss, um den Erzählenden ins Gesicht schauen zu können. Die Erzählenden sitzen aneinandergereiht wie an einem virtuellen Tisch. Der Zuhörende befindet sich ihnen gegenüber und kann beobachten, wie die Seniorinnen und Senioren im Alter zwischen 77 und 98 Jahren beim Erzählen innehalten und sich erinnern. Wie sie den Erzählfaden wieder aufgreifen und die oder der jeweils nächste ihn mit seinen Erfahrungen weiterspinnt.

Das Videoprojekt von Ina Rommel und Stefan Krauss entstand im Rahmen der Meisterschülerprüfung Rommels an der Universität der Künste Berlin. Zuerst kontaktierten die beiden Medienkünstler über die Seniorenvertretung Friedrichshain-Kreuzberg Menschen aus der Nachbarschaft. Später kamen immer mehr Zeitzeugen vor die Kameralinse. Unter anderem durch die Unterstützung der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, dem Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten und der AWO Berlin konnte das Mosaik verschiedener Blicke auf den Zweiten Weltkrieg entstehen.

Unterteilt ist das Kaleidoskop der Stimmen in vier Sektionen. Auf die Kinderspiele folgen Beobachtungen, wie Nachbarn oder Familienmitglieder von SS-Männern verhaftet und deportiert wurden und wie die Umgebung darauf reagierte - oder eben nicht reagierte.

Der dritte Teil der Installation ist von der Erinnerung an den Bombenalarm geprägt. Erzählungen vom Verstecken unter den Schienen der Hochbahn vor fallenden Bomben vermischen sich mit Geschichten über Flächenbrände in der Stadt, Brandbomben auf der Friedenstraße und Leichen im geschmolzenen Asphalt. Ein Bunker am Ostbahnhof wird in den Erzählungen zum Schauplatz der Zeitgeschichte; ebenso der Schwarzmarkt auf der Schillingbrücke, wo Kinderwagen gegen Zigaretten und Brot getauscht wurden. Dem folgen die Flucht auf einsamen Landstraßen, das Schlafen in Scheunen bei Minusgraden, Todesmärsche aus Konzentrationslagern. »Das war das fürchterlichste Erlebnis meines neunjährigen Lebens«, erzählt Marianne Lachmann, die 1935 in Breslau geboren ist. Noch heute sehe sie die traumatischen Erlebnisse vor sich. Nach dem Hören dieser Erzählungen sahen die Medienkünstler Strauss und Rommel die Stadt mit anderen Augen. Der Blick auf die Gesichter in den Straßen Berlins änderte sich: Man ahnte die Geschichten, die sich dahinter verbergen.

Den Schluss der Erzählrunde bilden Botschaften an die heutige Enkelgeneration. »Alles hinterfragen«, warnt die 82-jährige Siegrid Strierath mit ernstem Blick. Auch Menschen, die heute vor Krieg und Gewalt fliehen müssen, sollte mit Menschlichkeit begegnet werden.

Manche Stimmen der Kriegskinder sind schleppend, einige der Hände zittern. Die Installation wurde über mehr als zwei Jahre hinweg stetig weiterentwickelt: Zu Beginn waren es zehn Menschen, die über ihre Fluchterlebnisse sprachen. In der Ausstellung in der Feuerwache sind inzwischen 16 Gesichter zu sehen. Mit 32 Menschen haben Rommel und Krauss insgesamt über ihre Kindheitserlebnisse gesprochen.

Inspiriert wurde »Kriegskinder« durch die Geschichten der Großmutter Rommels, die davon handelten, wie sie von der Wolga nach Kasachstan kam. Ina Rommel selbst ist im kasachischen Temirtau geboren und erreichte Deutschland mit zweieinhalb Jahren zusammen mit der gesamten Familie. Ihre eigene Migrationsgeschichte hat sie indirekt geprägt. »Kunst muss für mich politisch sein und einen Inhalt haben«, sagt sie. Interesse hat sie vor allem an Menschen, die am sogenannten Rand der Gesellschaft leben.

Rommel und Krauss sind, so sagen sie, an ihr Videoprojekt wie »fragende Enkelkinder« herangegangen. Bevor die Videosequenzen mit den Zeitzeugen entstanden sind, haben sich die Medienkünstler bis zu zehn Mal mit den Senioren und Seniorinnen getroffen. Mittlerweile haben sich durch die Gespräche Freundschaften entwickelt. Das Format des Videos haben die beiden gewählt, weil es die Möglichkeit der Vermittlung und Archivierung von Zeitgeschichte bietet. Die nächste Generation kann so die Vergangenheit nicht nur aus Büchern kennenlernen. »Solange Menschen auf uns zukommen und ihre Geschichte erzählen wollen, machen wir weiter«, sagt Rommel. Während der Ausstellung seien bereits weitere ehemalige Kriegskinder auf sie zugekommen, um ihre Erfahrungen aus der Zeit zu teilen. Auch diese Geschichten wollen Rommel und Krauss aufzeichnen. Eine interaktive Internetplattform ist in Planung, auf der sowohl die Geschichten der einzelnen Zeitzeugen als auch die gesamte durch Montage entstandene Narration zu sehen sein soll.

Georg Weise, 1930 in Berlin-Britz geboren, blickt mutig von einem der Bildschirme. Sein Vater war damals Widerstandskämpfer, Weise selbst ist Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und des Neuköllner Vereins »Hufeisern gegen Rechts«. 1928 hätten die Demokraten die Nazis noch aufhalten können, 1933 war es zu spät, zitiert er Tucholsky. Heute seien die Neonazis noch in der Minderheit, heute könne man die Demokratie retten, sagt er. »Noch können aktive Demokraten weiteres verhindern«, sagt Weise in der Videosequenz. Die Kriegskinder sind alt geworden. Es ist höchste Zeit, ihnen noch einmal zuzuhören.

»Kriegskinder« von Ina Rommel und Stefan Krauss, bis zum 21. Januar in der Alten Feuerwache Friedrichshain, Marchlewskistr. 6

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal