Der Herr der Ringe

Im Atze-Musiktheater fordert »Hans im Glück« die Herzen und Sinne der Zuschauer heraus

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Was hätte man sich nicht alles einfallen lassen können, um das Grimm’sche Märchen vom »Hans im Glück« auf der Bühne zum Wohlgefallen begieriger Kinderaugen zu illustrieren! Allein die Darstellung der Tiere, die der Wandersmann eins gegen das andere eintauscht, hätte den Kostümbildnern und Schauspielern Anlass für eine form- und farbenfrohe Materialschlacht sein können. Im Weddinger Atze-Musiktheater indessen hat man sich für eine ganz andere, überraschend glückliche Variante entschieden: Das Pferd ist hier nichts als ein mannshoher Metallring, die Kuh ein etwas kleinerer, das Schwein einer von wieder geringerem Durchmesser, die Gans dann schließlich: ein Metallring, der kleinste.

Wer nun meint, eine solch radikal abstrakte Ausstattung überfordere das Vorstellungsvermögen von Kindern ab sechs Jahren, an die das Stück sich erklärtermaßen wendet, der wird auf der kleinen Atze-Studiobühne aufs Schönste vom Gegenteil überzeugt: Mit jeder der siebzig Spielminuten steigert sich die Lust, dabei zuzusehen, wie die Ringe zum Leben erwachen, wie sie leibhaftig zu wiehern und muhen und grunzen und gackern scheinen. Der Mut des reduzierten Kostüm- und Bühnenbilds (Jochen G. Hochfeld) wird von den drei Darstellern mit erstaunlichen Verwandlungskünsten belohnt: Iljá Pletner, Falk Berghofer und Friederike Noelting vollbringen als Schauspieler, Musiker und Artisten in Personalunion das Wunder, aus fast nichts fast alles herbeizuzaubern. Dem Glück, auf kindgerechte Weise über das Wesen des Glücks nachzudenken, gesellt sich so in Matthias Schönfeldts Inszenierung ein weiteres Glück hinzu: das Theaterglück der Imagination. Man staunt mit den Kindern darüber, wie das menschliche Hirn stimuliert werden kann.

In der Form von Ringen kommen nicht nur Hans’ tierische Begleiter zur Geltung, Kreise beschreibt auch das Rhönrad als zentrales Zubehör. Darin gefangen wie im sprichwörtlichen Hamsterrad, macht der Geselle sich kopfüber auf den Weg, sein Glück zu finden. Das mobile Requisit vermag hier aber weit mehr, als lediglich Sinnbild oder nur Instrument zirkustauglicher Kunststückchen zu sein: Auf die Seite gekippt, wird das Rhönrad zum Brunnen, sodann dank eines dazwischengeschobenen Tresenbretts zum Wirtshaus, schließlich in Schräglage zum Unterschlupf und zum Gefängnis. Ebenfalls rund ist die Bahn, die das auf den Bühnenboden geklebte Papier beschreibt: Während Hans noch glaubt, darauf den Weg in die Zukunft zu beschreiten, sieht im Publikum jede und jeder, dass er sich doch immer nur im Kreise dreht. Und rund ist die Öffnung in der Stellwand im Hintergrund. Das davorgehängte Laken wird dann und wann zur Leinwand für kleine Schattenspiele.

Würde man all das nur sehen, nicht auch hören können - der Zauber der Inszenierung würde sich nicht recht erschließen. Denn was wäre das Herz eines Stücks im Musiktheater, wenn nicht die Stimmen der Sänger und die Klänge der Instrumente? Iljá Pletner, einem kleinen Mann, der so lebensfroh über die Bühne toben und so offenherzig grinsen kann wie nur einer, der jede Menge Platz für das Glück in seinem Brustkorb hat, ist die Rolle des Hans wie auf den Leib geschneidert. Die Inbrunst, mit der er seine Lieder schmettert, dürfte indessen auch auf einem Geheimnis gründen, das der Programmzettel lüftet: Pletner hat all diese Stücke selbst komponiert (Arrangement: Andreas Kersting). Gitarre und Mandoline spielt er auf offener Szene dazu meist selbst. Hinzu kommen Friederike Noeltings Akkordeon, drei Kuhglocken und eine Maultrommel, und das musikalische Instrumentarium der Inszenierung ist schon komplett - fast jedenfalls.

Zur imaginären Kraft des Geschehens tragen nämlich die Stimmen der drei Schauspielersänger maßgeblich bei. Gemeint sind hier weniger die rockigen Songs, die Brecht/Weill’schen Ensemblesätze oder die wohlklingenden Balladen, die das Stück zu bieten hat; gemeint sind das Glucksen und Schnarren und Gackern, das den dreien nebenbei entweicht, als hätten sie einen halben Bauernhof verschluckt. Insbesondere Falk Berghofer erweist sich zudem als toller Beatboxer: Wer braucht noch Percussion, wenn Mund, Nase und Rachen das Schlagwerk ersetzen?

Während Pletner als Hans gleichsam zum Herrn all der Ringe wird, stehen Noelting und Berghofer ihm »beratend« zur Seite. Beide ganz in Schwarz, sind sie seine nach außen gekehrten inneren Stimmen - oft im Widerstreit miteinander, manchmal vereint darin, Hans von der Unvorteilhaftigkeit seiner Tauschgeschäfte zu überzeugen. Gelingen kann ihnen das freilich nur ganz zu Beginn, als der Meister seinen Gesellen vor die Wahl stellt, was der Lohn seiner Arbeit sein soll: ein kleiner Ring, der auf die zarten Finger einer Frau passen würde - oder ein schwerer Klumpen Gold. Wie die Wahl ausfällt, ist bekannt, der Fortgang des Märchens auch.

In der Atze-Variante ist es allerdings kein Schleifstein, der Hans am Ende in den Brunnen fällt, es ist wieder derselbe Klumpen Gold, den er am Anfang besaß. Um frei zu sein und glücklich zu werden, stößt er ihn - schließlich sind wir im Märchen - ganz bewusst über den Rand, ehe das Abschlusslied erklingt: »Nicht versteckt, doch schwer zu finden,/ Hält man’s fest, muss es verschwinden,/ Haben kann man’s nicht, man kann’s nur sein,/ Und wenn man’s ist, ist man nicht mehr allein.«

Nächste Aufführungen am 9. und 10. Januar im Atze-Musiktheater, Luxemburger Str. 20, Wedding.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal