Unter dem Mindestlohn

Laut einer Studie erhalten 2,7 Millionen Beschäftigte weniger als 8,84 Euro in der Stunde

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 3 Min.

Viele Chefs bezahlen noch immer weniger als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Rund 2,7 Millionen Beschäftige erhielten im Jahr 2016 weniger als den damals gültigen gesetzlichen Mindestlohn. Damals lag dieser bei 8,50 Euro pro Stunde, seit 1. Januar 2017 sind es 8,84 Euro. Das waren fast zehn Prozent aller Arbeitnehmer, die eigentlich ein Anrecht auf diese Lohnuntergrenze hatten. Zu diesem Ergebnis kommt eine am Montag veröffentlichte Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der zum DGB gehörenden Hans-Böckler-Stiftung auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Dabei wurden die legalen Ausnahmen in Form von tarifvertraglich vereinbarten Übergangsfristen in einigen Branchen noch nicht einmal berücksichtigt.

Die Verstöße konzentrieren sich auf Branchen mit vielen Kleinbetrieben und prekären Arbeitsverhältnissen wie Minijobs. So bekamen im Jahr 2016 rund 43 Prozent der Beschäftigten in privaten Haushalten weniger als den Mindestlohn. Im Hotel- und Gaststättengewerbe betrug die Umgehungsquote 38 Prozent, im Einzelhandel etwa 20 Prozent. Kaum Verstöße gab es unter anderem in der Energieversorgung, der Entsorgungswirtschaft, in großen Industriebranchen, bei Banken und in der öffentlichen Verwaltung. Guido Zeitler, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, sagte am Montag, die Studie sei ein klarer Auftrag an die Politik, »sich des Problems des millionenfachen Mindestlohnbetrugs endlich mit der notwendigen Konsequenz zu widmen«. »Fatal und völlig kontraproduktiv« wäre es demnach, wenn die neue Regierung dem Drängen mancher Unternehmerverbände nach eine Lockerung der Dokumentationspflichten nachgäbe.

Als wichtiges »Bollwerk« gegen Unterschreitungen des Mindestlohns identifizierten die WSI-Forscher die Tarifbindung und die betriebliche Mitbestimmung. So betrug die Quote in Firmen mit Betriebsrat und Flächen- oder Haustarif nur 3,2 Prozent. Fehlte beides, waren dagegen 18,6 Prozent betroffen. »Eine Stärkung von Mitbestimmung und Tarifbindung kann zu faireren Arbeitsbedingungen beitragen«, sagt WSI-Arbeitsmarktexperte und Studienautor Toralf Pusch.

Auch dürfe es keine weiteren Ausnahmen geben, etwa für Flüchtlinge, wie es von der FDP und Teilen der Union gefordert wird. »Mit jeder weiteren Ausnahme sinkt die Akzeptanz bei Arbeitnehmern und Unternehmen, deren Wettbewerbsbedingungen schon heute durch die weit verbreitete Praxis der Mindestlohnumgehungen verzerrt werden«, so Pusch. Zudem ist mit einer Dunkelziffer zu rechnen. Denn die Vergütung Scheinselbstständiger im Rahmen von Werkverträgen und Projekten wird durch das Gesetz nicht erfasst.

Als Ursache für die Verstöße gegen das Mindestlohngesetz wird vor allem mangelnde Kontrolldichte benannt. Derzeit hat die zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) bundesweit 7200 Planstellen, von denen 800 unbesetzt sind. Nötig wäre eine Aufstockung auf mindestens 10 000 Mitarbeiter. Dabei geht es vor allem um die Prüfung der Arbeitszeitdokumentationen, denn die Ausweitung der Arbeitszeit ist die häufigste Form der Umgehung. Schließlich sei »kaum ein Arbeitgeber so dreist, einen unzulässigen Lohn vertraglich zu fixieren«, so WSI-Sprecher Rainer Jung gegenüber »nd«. Für 2017 liegen noch keine abschließenden Zahlen zu Verstößen vor. Allerdings hat die FKS im ersten Halbjahr in neun Prozent der Fälle Verstöße gegen das Mindestlohngesetz festgestellt, die zu Ermittlungsverfahren führten.

Trotz der alarmierenden Zahlen bescheinigen die WSI-Forscher dem Mindestlohngesetz jedoch eine positive Wirkung. Für über vier Millionen Beschäftigte besonders in Ostdeutschland bedeutete der Mindestlohn eine Lohnerhöhung. Zudem habe die Untergrenze auch zu deutlichen tariflichen Steigerungen in Niedriglohnsektoren wie dem Gastgewerbe, der Fleischverarbeitung und dem Einzelhandel geführt, heißt es. Auch der Anteil der Aufstocker im Niedriglohnsektor, die zusätzlich zu ihren Einkünften Anspruch auf Hartz IV haben, sank seit der Einführung von 20 auf 17 Prozent. Und die Quote könnte weiter beträchtlich gesenkt werden - »wenn sich alle Arbeitgeber auch an das Mindestlohngesetz halten würden«, so Pusch.

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