Plötzlich war alles zu Ende

Aus der Rede von Anita Lasker-Wallfisch zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

  • Lesedauer: 9 Min.

Unser Vater war Rechtsanwalt und Notar am Oberlandesgericht, unsere Mutter eine wunderbare Geigerin. Wir waren drei Töchter und lernten alle ein Instrument spielen, ich mit Begeisterung Cello, Renate mit weniger Begeisterung Geige.

Es gab bei uns ein paar Regeln, die ich als Kind überhaupt nicht verstanden habe und eigentlich ziemlich blöd fand, zum Beispiel, dass am Sonntag ausschließlich französisch gesprochen wurde. Am Sonnabendnachmittag versammelte sich die Familie. Wir lasen die Klassiker, und mein Vater erzählte von seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg als Frontkämpfer mit Eisernem Kreuz, und wir spielten Schach. Das schuldeten wir unserem Namen. Mein Onkel Edward Lasker war Grandmaster of America.

Die Cellistin von Auschwitz

Anita Lasker wurde am 17. Juli 1925 in Breslau als jüngste von drei Töchtern in ein deutsch-jüdisches Elternhaus der bildungsbürgerlichen Klasse geboren. Ihr Vater Alfons Lasker war Rechtsanwalt und Notar, die Mutter Edith Geigerin. Im Jahr 1942 deportierten und ermordeten die Nationalsozialisten Alfons und Edith Lasker.

Anita und ihre Schwester Renate kamen in ein Waisenhaus, wurden später inhaftiert und schließlich in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Weil sie Cello spielen konnte, wurde sie Mitglied im Frauenorchester des Lagers. Ihre Befreiung erlebten Anita und Renate im April 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Im September 1945 sagte Anita Lasker als Zeugin im Bergen-Belsen-Prozess gegen Wachpersonal des Konzentrationslagers aus. 1946 wanderte sie mit einem Umweg über Belgien nach Großbritannien aus. Dort heiratete sie den Pianisten Peter Wallfisch, der ebenfalls aus Breslau stammte. Gemeinsam haben sie zwei Kinder. Anita Lasker-Wallfisch wurde Mitbegründerin des Londoner English Chamber Orchestra und eine erfolgreiche Cellistin.

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Befreiung schrieb Anita Lasker-Wallfisch ihre Erfahrungen zunächst für ihre Kinder und Enkel auf. Das Buch »Ihr sollt die Wahrheit erben« erschien im Jahr 1997 erstmals auch auf Deutsch. Bis heute hält sie Vorträge vor allem in Schulen. epd/nd

Die Rede von Anita Lasker-Wallfisch im Bundestag können Sie vollständig nachlesen oder als Video ansehen.

Plötzlich war alles zu Ende. Das Idyll war zu Ende. Radikale Ausgrenzung - »Juden unerwünscht« war überall zu lesen -, man darf nicht mehr ins Schwimmbad gehen, auf Parkbänken sitzen. Fahrräder mussten abgegeben werden. Männer mussten den Namen »Israel« und Frauen den Namen »Sara« zusätzlich annehmen. Wir mussten unsere Wohnung räumen und zurück ins Mittelalter. Wir mussten den gelben Stern auf unserer Kleidung tragen. Auf der Straße wurde ich angespuckt und »dreckiger Jude« genannt. Unser Vater - unverbesserlicher Optimist - konnte es nicht glauben: Die Deutschen können doch diesen Wahnsinn nicht mitmachen.

In dem Museum in Auschwitz kann man diese riesigen Schaufenster sehen mit Haaren, Zahnbürsten, Brillen und Prothesen. Wo kommen die her? Jüdische Frontkämpfer - das war der Dank des Vaterlandes.

1938, Kristallnacht - hier kann man nicht bleiben. Aber da war es zu spät, wir waren gefangen. Die Massenerschießungen begannen bereits 1939 mit der Besetzung Polens, und 1942 fand die bekannte Wannsee-Konferenz statt. Sogenannte kultivierte Menschen saßen zusammen und diskutierten ernsthaft, wie man am besten Millionen von Menschen - Juden - aus der Welt schaffen kann. Das einzige Problem schienen die Mischlinge zu sein: Was soll man eigentlich mit den Menschen machen, die nur halb jüdisch sind? Soll man die auch ermorden?

Die Deportationen fanden jetzt regelmäßig statt, und aus allen von Deutschland besetzten Gebieten, sogar aus Griechenland, wurden Menschen nach Auschwitz transportiert. Unsere Eltern wurden am 9. April 1942 deportiert. Wir wollten selbstverständlich zusammenbleiben, mitgehen, aber unser Vater sagte weise Worte: Nein, da, wo wir hingehen, kommt man zeitig genug hin.

Es erübrigt sich, zu sagen, dass wir sie nie wieder gesehen haben. Ich war damals 16 Jahre alt.

Also, wir waren allein, mussten in ein Waisenhaus, absolut entschlossen, uns nicht unterkriegen zu lassen, nicht zu warten, bis man abgeholt wird, um ermordet zu werden, weil man jüdischer Abstammung ist. Wir waren zum Arbeitsdienst in einer Fabrik eingezogen. In dieser Fabrik arbeiteten unter anderem auch französische Kriegsgefangene. Bald war ein Kontakt hergestellt, und so begann unsere Karriere als Urkundenfälscher; das waren Papiere, die von den Franzosen zur Flucht benutzt wurden.

Als wir bemerkten, dass man uns beobachtete, beschlossen wir, zu versuchen, selbst zu fliehen und mit gefälschten Papieren in die unbesetzte Zone von Frankreich zu gelangen - ein absolut absurdes Unternehmen, wenn ich jetzt zurückdenke. Aber was hatten wir zu verlieren? Gar nichts.

Natürlich misslang dieser letzte verzweifelte Versuch. Auf dem Breslauer Hauptbahnhof, genau als wir in den Zug einsteigen wollten, wurden wir von der Gestapo verhaftet. Ich mache es jetzt kurz. Wir sitzen also im Gefängnis, ein ganzes Jahr lang. Es war ein Riesenglück, nicht sofort nach Auschwitz verfrachtet zu werden. Wir sollten beim Sondergericht einen Prozess bekommen. Ich glaube, dass wir das einem Kollegen meines Vaters zu verdanken haben - einem gewissen Dr. Lukaschek, wenn ich mich nicht irre. Das Bürgerliche Gesetzbuch war damals nicht mehr aktuell, und in der neuen Ordnung war es vorteilhafter, als Verbrecher eingestuft zu werden und nicht als Jude; denn Verbrecher bekamen einen Prozess, Juden waren Freiwild.

Die Anklage lautete: Fluchtversuch, Feindesbeihilfe und Urkundenfälschung. Der Pflichtverteidiger erschien nicht, und - so unverständlich das heute klingen mag - wir wollten gar nicht verteidigt werden. Je höher die Strafe, desto besser. Wir wussten schon damals, dass Gefängnis besser ist als Konzentrationslager.

Es war nicht gerade angenehm. Man war 24 Stunden in einer Zelle eingeschlossen, mit der einzigen Unterbrechung des halbstündigen Rundgangs im Hof, Hände auf dem Rücken, in totalem Schweigen. Aber im Gefängnis wird man im Allgemeinen wenigstens nicht ermordet.

Renate bekam dreieinhalb Jahre Zuchthaus und ich anderthalb Jahre Gefängnis. Wir haben die Strafe nicht abgesessen und wurden beide separat nach Auschwitz geschickt. Es ist kaum zu glauben, aber ich sollte ein Papier unterschreiben, dass ich freiwillig nach Auschwitz gehe.

Was in Auschwitz geschah, war damals bereits bekannt, nur wollte man es einfach nicht glauben. Leider war es wahr. Also, ich komme in Auschwitz an, mit dem Versuch, mich auf das Schlimmste vorzubereiten - soweit so etwas überhaupt möglich ist.

Es kam anders. Ich war nicht mit einem dieser Riesentransporte von Juden angekommen, die an der Rampe zu Tod oder Leben verurteilt wurden, sondern als Verbrecher, und das war vorteilhafter. Wir waren sogenannte Karteihäftlinge. Mein Kopf wurde rasiert, und die Nummer 69 388 wurde auf meinen linken Arm tätowiert. Die Anita Sara Lasker gibt es nicht mehr.

In Auschwitz - es ist kaum zu glauben - gab es Musik, und es wurde dringend jemand gebraucht, der Cello spielt. Ich wurde Mitglied der Lagerkapelle in Birkenau. Dirigentin war Alma Rosé, Nichte von Gustav Mahler und Tochter von Arnold Rosé, jahrelanger Konzertmeister der Wiener Oper, bis er »entlassen« wurde. Er war Jude. Die Kapelle wohnte auf Block 12, beinahe am Ende der Lagerstraße, nur ein paar Meter von Krematorium I entfernt und mit einem unbeschränkten Blick auf die Rampe. Wir konnten alles sehen: die Ankunftszeremonien, die Selektionen, die Kolonnen von Menschen, die Richtung Gaskammer gingen und in Rauch verwandelt wurden.

1944 kamen die Transporte aus Ungarn an. Die Gaskammern konnten nicht Schritt halten. Danuta Czech schrieb in ihrem bewundernswerten Buch »Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 - 1945«: Der Lagerkommandant Höß ordnet an, »fünf Gruben zur Leichenverbrennung … auszuheben«. Die Transporte waren sehr zahlreich, und es kam vor, dass das Krematorium V nicht alle Menschen fasste, die mit dem Transport angekommen waren. Die, die in den Gaskammern keinen Platz hatten, erschoss man. In vielen Fällen warf man Menschen bei lebendigem Leibe in die brennenden Gruben. Auch das habe ich gesehen.

Wenn man nicht direkt bei der Ankunft in die Gaskammer kommt, überlebt man in Auschwitz sowieso nicht lange - maximal drei Monate. Wenn man irgendwie gebraucht wird, hat man eine winzige Chance. Ich hatte diese Chance - ich wurde »gebraucht«.

Wir spielten Märsche am Lagertor für die Gefangenen, die in den umliegenden Fabriken arbeiteten - IG Farben, Buna, Krupp usw. -, und Konzerte am Sonntag irgendwo auf dem Lagergebiet für das Personal oder wer immer auch zuhören wollte. Für viele war Musik in dieser Hölle eine absolute Beleidigung, für manche vielleicht eine Möglichkeit, sich für Momente in eine andere Welt zu träumen.

Renate kam dort etwas später aus dem Zuchthaus an, und durch einen geradezu unglaublichen Zufall haben wir uns wiedergefunden. Birkenau ist unwahrscheinlich groß. Der Zustand meiner Schwester ist kaum zu beschreiben: ein Skelett mit offenen Wunden an den Beinen, die einfach nie heilten. Natürlich hatten wir alle Typhus. Vor Läusen konnte man sich überhaupt nicht retten, und von Hunger will ich schon gar nicht sprechen. Eigentlich wäre es eine Gnade gewesen, wenn sie einfach stillschweigend gestorben wäre. Es war unglaublich: Sie überlebte.

Plötzlich hieß es: Antreten, Juden auf eine Seite, Arier auf die andere! Das konnte nur eines heißen: Gaskammer. Aber wir hatten uns getäuscht, wir wurden in einen Viehwagen verladen. Renate kam ganz einfach mit. Jetzt trennen wir uns nicht mehr. Wir fuhren gen Westen, nach Bergen-Belsen. Auschwitz wurde gesäubert, die Gaskammern wurden gesprengt - ganz gelungen ist es nicht. Wer hätte geglaubt, dass wir Auschwitz lebendig und nicht als Rauch verlassen würden!

Zu der Frage, ob es in Belsen besser war, kann ich nur eines sagen: Es war anders. In Auschwitz hat man Menschen auf die raffinierteste Art und Weise en gros ermordet. In Belsen ist man ganz einfach krepiert. Wir existierten inmitten verwesender Leichen und warteten auf das Ende. Dann kamen die Engländer, und wir waren befreit - 15. April 1945, ich war 19 Jahre alt.

Ich spreche oft hier zu jungen Menschen in Schulen, und nicht nur jungen Menschen. Eine der besten Fragen ist immer: Sind Sie dann nach Hause gefahren? - Ein Zuhause gab es nicht mehr. Wir waren diese neue Menschengattung: Displaced Persons - mit all den Problemen, die damit zusammenhängen. Was soll man mit diesen Menschen machen? Ich brauche die Antwort nicht zu buchstabieren.

Im Jahre 2000 fand die internationale Konferenz in Stockholm statt - und der Beschluss, den 27. Januar zum offiziellen Gedenktag zu ernennen und den Holocaust als Pflichtfach in Schulen einzuführen. Die Stimmung war voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Inzwischen sind über 70 Jahre vergangen, die Generation der Täter gibt es nicht mehr. Man kann es eigentlich der heutigen Jugend nicht verübeln, dass sie sich nicht mit den Verbrechen identifizieren will. Aber leugnen, dass auch das zur deutschen Vergangenheit gehört, darf nicht sein.

Heute gedenken wir der Millionen von unschuldigen Opfern. Wir sollten auch der mutigen Helfer gedenken. Es gab sie - nicht genug, aber es gab sie. Es gab Menschen, die damals ihr eigenes Leben gefährdet haben, um anderen Menschen zu helfen. Auch das sollen wir nicht vergessen.

Antisemitismus ist ein zweitausend Jahre alter Virus, anscheinend unheilbar. Immer gibt es andere Gründe: Religion, Rasse. Nur sagt man heute nicht unbedingt »Juden«, heute sind es die Israelis, ohne wirklich die Zusammenhänge zu verstehen oder gar zu wissen, was hinter den Kulissen vor sich geht.

Juden werden kritisiert, dass sie sich damals nicht verteidigt haben, was nur bestätigt, wie unmöglich es ist, sich in unsere damalige Lage hineinzuversetzen. Und dann werden Juden kritisiert, wenn sie sich verteidigen. Was für ein Skandal, dass jüdische Schulen und sogar jüdische Kindergärten polizeilich bewacht werden müssen!

Seit Jahren bin ich regelmäßig hier eingeladen und habe einen sehr positiven Kontakt mit jungen Menschen. Bei meinem letzten Besuch habe ich etwas erlebt, was weniger positiv war. Ich war in Bayern, in Rosenheim. Zwei wirklich bewundernswerte Geschichtslehrerinnen hatten mit Riesenenthusiasmus und ohne irgendeine offizielle finanzielle Hilfe eine Lesereise in Schulen in Traunstein organisiert. Der Plan war, zwei sehr unterschiedliche Augenzeugen zu Wort kommen zu lassen: Niklas Frank, Sohn von Hans Frank, Generalgouverneur von Polen und auch »Judenschlächter« genannt, und ich.

Wir trafen uns im Restaurant meines Hotels und besprachen die bevorstehenden Termine. Ein Mann in der Nähe hatte offensichtlich die Ohren gespitzt, kam wütend an unseren Tisch und beschwerte sich, dass wir hier die schöne Atmosphäre mit diesen Auschwitz-Geschichten verderben und Ähnliches. So etwas wäre vor, sagen wir, fünf Jahren vielleicht nicht möglich gewesen - also aufpassen.

Endlose Schwierigkeiten waren zu überwinden, bevor wir beide Deutschland verlassen konnten - fast ein ganzes Jahr. Ich hatte geschworen, nie wieder meine Füße auf deutschen Boden zu setzen. Mein Hass auf alles, was deutsch war, war grenzenlos. Wie Sie sehen, bin ich eidbrüchig geworden - schon vor vielen, vielen Jahren -, und ich bereue es nicht. Hass ist ganz einfach ein Gift, und letzten Endes vergiftet man sich selbst.

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