Vor der nächsten Schlägerei

Martin Leidenfrost trifft in Mazedonien den Chef einer kleinen, aufstrebenden Albanerpartei

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 4 Min.

Nun, da wegen der Bewegung im mazedonisch-griechischen Namensstreit neue Ausschreitungen bevorstehen, interessiere ich mich für die letzte mazedonische Schlägerei. Am 27. April 2017 gipfelte der Regierungswechsel in Gewalt. Anhänger der rechtsnationalen Regierungspartei VMRO-DPMNE stürmten das Parlament und droschen auf sozialdemokratische und albanische Abgeordnete ein, die gerade eine neue Regierungsmehrheit formten. Am schwersten wurde nach eigenen Angaben der Chef einer kleinen, aufstrebenden Albanerpartei verletzt. Jener Ziadin Sela verkündete nach seiner Genesung: »Wenn ich heute nicht am Leben wäre, wäre Krieg in Mazedonien.« Ich muss den Mann kennenlernen. So spaziere ich wieder durch Skopje. Der neoklassizistische Monumental-Korso der VMRO im Zentrum ist unfertig geblieben. Hinzugekommen sind Tafeln mit Sinnsprüchen einer geborenen Skopjerin, Mutter Teresa. Im albanischen Kulturcafé »Libraria« fesselt mich ein Büchlein. Darin sind die Verfassungen der drei albanischen Staaten Albanien, Kosovo und - mit einem Albaneranteil von 25 Prozent - Mazedonien abgedruckt. Ich lese heraus, dass das separatistische Gebilde Kosova »unteilbar« ist, während Mazedonien Grenzänderungen unter vage formulierten Bedingungen erlaubt.

Dann sitze ich im Parlament und warte in seinem Büro auf Sela. Ein Fernseher, sein Glasschrank leer, sein Schreibtisch fast leer. Ein kleines Gemälde, verschneite Waldimpression. Der Abgeordnete tritt ein. Marineblauer Anzug, weißes Hemd aus blickdichtem Stoff, ein großer schöner Mann. Er spricht mit tiefer Stimme, langsam und überzeugt.

Sein Blick auf mazedonische Geschichte darf nicht zitiert werden, die albanische sieht er albanisch: Wäre Albanien im Londoner Vertrag von 1913 nicht so klein ausgefallen, »hätte es auf dem Balkan die perfekte Balance gegeben - Staaten mit je sechs bis acht Millionen Albanern, Serben, Bulgaren, Griechen.« Heute, sagt er, »glauben wir Albaner mehr an die EU als jede andere Nation. Wir glauben an NO BORDERS.« »Keine Grenzen oder keine Grenzkontrollen?« Er lacht: »Keine Grenzkontrollen.«

Aus der neuen Regierung ist Sela inzwischen ausgetreten. Der frühere Internist sieht keine Fortschritte hin zur Unabhängigkeit von Justiz und Geheimdienst, »die Lokalwahlen waren schlimmer als unter dem VMRO-Regime.« Selas Rivale ist der albanische Politiker Ali Achmeti, der sich 2001 bis 2002 vom Warlord des kleinen Bürgerkrieges zum ewigen Koalitionspartner der großen mazedonischen Parteien verwandelt hat. Sela stimmt zwar für albanische Anliegen, etwa für das neue Sprachgesetz, das Albanisch im ganzen Land zur zweiten Behördensprache erhebt, sieht sich aber sonst als verfolgter Oppositioneller. Der albanische Wachmann, der den bewusstlosen Sela am 27. April aus dem Plenum heraustrug, sei »leider im Gefängnis, weil er mir das Leben gerettet hat.«

Ich spreche ihn auf die Verfassung an, die der albanischen Minderheit umfassende Vetorechte einräumt. Viele Gesetze brauchen eine doppelte Mehrheit, und zwar eine Mehrheit der Abgeordneten plus eine Mehrheit der Abgeordneten, die nationalen Minderheiten angehören. Sela winkt ab: »Das erhält nur den Status quo.« Als Beispiel führt er an, dass es in seiner mehrheitlich albanischen Heimatstadt Struga keine nach Albanern benannten Straßen gebe. Die mazedonische Minderheit im Gemeinderat verhindere dies.

Jetzt aber zum 27. April 2017. Sela schildert ihn so: »Die VMRO führte damals eine Kampagne gegen mich, die Schläger haben hauptsächlich auf mich gezielt.« Er habe sie zwar nicht erkannt, »ich war zwei Stunden ohne Bewusstsein«. Doch vermutet er »einen Plan«, demzufolge es einen Toten geben sollte, um dem VMRO-nahen Präsidenten die Ausrufung des Ausnahmezustands zu ermöglichen. »Sie wollten mich töten, und sie dachten, ich wäre tot.« Um den vermeintlich toten Sela zu rächen, seien »viele aus dem Albanerviertel über die Steinbrücke zum Parlament gezogen, mit Kalaschnikows«. Ich frage nach: »Die haben Kalaschnikows zu Hause?« Er zieht unschuldig die Schultern hoch: »So ist es mir erzählt worden.« Ich mache Augen.

So plaudern wir stressfrei bei einem Macchiato vor uns hin, im Parlament eines zerrütteten jungen Staates, der bald vielleicht unter neuen Ausschreitungen einen neuen Namen bekommt. Viele schöne Sachen sagt Ziadin Sela auch, etwa dass er für einen »wirklich konsensualen Staat« eintritt.

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