Philipp Tolziner

Kalenderblatt

  • Martin Stolzenau
  • Lesedauer: 2 Min.

Er stammte eigentlich aus München und erlangte nach Studien in Dessau das begehrte »Bauhaus-Diplom«, unterschrieben von Mies van der Rohe. Mehr noch. Philipp Tolziner war an einigen maßgeblichen Projekten der avantgardistischen Institution beteiligt. Erstes Aufsehen erregte er, als er ein Reihenhausprojekt für Tel Aviv entwickelte. Dazu gesellte sich die Beteiligung an den Laubenganghäusern in Dessau-Törten, konzipiert getreu dem Motto »Volksbedarf statt Luxusbedarf«. Tolziner plante außerdem den Bau von Stahlhäusern, wie sie Richard Paulick sowie Georg Muche entwickelt hatten. Doch zur Realisierung kam es nicht mehr.

Da der 1906 in Bayerns Hauptstadt geborene linksorientierte jüdische Architekt für sich in Nazideutschland keine Perspektive sah, folgte er mit Gesinnungsfreunden seinem vormaligen Lehrer Hannes Meyer in die Sowjetunion. Er arbeitete zunächst in der Bauhäusler-Brigade »Rotfront« und konzipierte typisierte Schulgebäude. Danach wurde er ins Projektierungsbüro für Städtebau in Orsk versetzt. Als Stalin 1936 ausländische Spezialisten ausweisen ließ, beantragten Tolziner und seine jüdischen sowie kommunistischen Bauhausfreunde die sowjetische Staatsbürgerschaft. Sie schützte sie vor der Auslieferung an Hitler, aber nicht vor dem stalinistischen Terror.

Tolziner wurde am 13. Februar 1938 verhaftet, wegen angeblicher Spionage verurteilt und am 10. November 1938 ins Straflager bei Solikamsk, 2000 Kilometer östlich von Moskau, deportiert. In den folgenden Jahren musste er unter unmenschlichen Bedingungen Bäume fällen. Infolge schwerer körperlicher Arbeit und Unterernährung dem physischen Zusammenbruch nahe, wurde er vom Lagerkommandanten mit dem weiteren Ausbau des Lagers betraut. Die damit verbundene Sonderstellung erleichterte ihm das Überleben bis zur Haftentlassung 1947.

Tolziner nahm von Sibirien aus Kontakt zu ehemaligen Bauhauskollegen in der jungen DDR auf, die er allerdings erfolglos um die Vermittlung einer Anstellung ersuchte. So übernahm er notgedrungen im Gebiet von Perm eine Restaurierungswerkstatt, die sich auf alte Bauten spezialisierte. Inzwischen verheiratet, erwarb er sich einen Ruf, der ihm 1961 die Rückkehr nach Moskau ermöglichte, wo er fortan am Institut für Städtebau wirkte. Tolziner machte seinen Frieden mit der poststalinistischen Gesellschaft, bewahrte sich aber seinen Glauben an eine bessere, gerechtere und menschlichere Gesellschaft. Und er schrieb seine Memoiren.

Erst im hohen Alter erinnerte man sich in Deutschland an ihn. Bauhauskollegen besuchten ihn in Moskau und luden ihn ihrerseits in die DDR ein. Tolziner hielt trotz zunehmender Erblindung viele Vorträge und überließ seine Unterlagen dem Berliner Bauhaus-Archiv. Er starb am 1. Mai 1996 in Moskau im Alter von 89 Jahren. Martin Stolzenau

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