Der Brief eines Selbstmörders

Georgij Iwanow: Reflexionen über den Sinn des Lebens, Mann und Frau

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 3 Min.

Überall habe sich die »kosmische Hässlichkeit« ausgebreitet. Vergebens sehne sich der »Mensch der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts« nach frischer Luft, Stabilität, Seelenruhe, Wahrheit, Freiheit, Liebe, Glück und harmonischer Kunst. Was er finde, seien Gemeinheiten, Perversitäten, Gewalt und Tod. Der Einzelne sei ein Atom - einzigartig und unwiederholbar, aber dennoch nur ein »Menschlein«, eine »Null«, eingeschlossen im undurchdringlichen Panzer der Einsamkeit, verurteilt zum Zerfall, zur Selbstzerstörung. Das ist das Credo des hoch sensibilisierten Erzählers in Georgij Iwanows Prosaschrift »Zerfall des Atoms«.

Georgij Iwanow (1894-1958), der als Kadett mit 15 Jahren die ersten Gedichte schrieb, durchlief in Petersburg die antisymbolistischen Schulen des Egofuturismus und Akmeismus. 1922 verließ er Sowjetrussland, ging nach Berlin und von dort nach Paris. Hier verkehrten er und seine Frau, die Dichterin Irina Odojewzewa, im Literatursalon des Schriftstellerehepaars Dmitri Mereschkowski und Sinaida Hippius und in der Gesellschaft »Grüne Lampe«. Nach dem Erscheinen des Gedichtbandes »Rosen« (1931) galt Iwanow als einer der besten Lyriker der russischen Emigration. Durch die Veröffentlichung der Prosaschrift »Zerfall des Atoms« im Dezember 1937 (auf dem Titelblatt stand 1938) löste er in der Pariser Diaspora Auseinandersetzungen über die existenzielle Entfremdung des Menschen aus. Ähnliche Debatten führte die französische Intelligenz wenig später über den Roman Jean Paul Sartres »Der Ekel« (1938).

Dem Leser bleibt nicht verborgen, dass Georgij Iwanow mit »Zerfall des Atoms« an Dostojewskis »Aufzeichnungen aus dem Abseits« (1864) anknüpft. Iwanows »Ich« unterscheidet sich von Dostojewskis Antihelden dadurch, dass es nicht diverse Weltverbesserungsvorschläge zynisch kommentiert, sondern grundsätzlich am Sinn des Daseins zweifelt, am Alltag des Emigrantenlebens zerbricht und in den Suizid getrieben wird.

Als Abschiedsbrief eines Selbstmörders konzipiert, ist das Buch Selbstoffenbarung und Anklage zugleich. Ein winziger Hoffnungsschimmer liegt im Gedanken des Erzählers, »dass derjenige, der durch das Chaos der Widersprüche zur ewigen Wahrheit durchdringen will, oder wenigstens zum schwachen Abglanz derselben, nur einen einzigen Weg besitzt: über das Dasein hinwegzugehen, gleich einem Seiltänzer, auf dem unansehnlichen, zerzausten, paradoxen Stenogramm des Lebens«. Das schmale Bändchen, ein Dialog mit der russischen Klassik von Puschkin und Gogol bis Dostojewski und Tolstoi, eine Collage von Reflexionen über Gott und den Sinn des Lebens, Mann und Frau, Liebe und Sex, erschien in einer kleinen Auflage von 200 Exemplaren. Auch wenn Iwanow bei den meisten Emigranten auf wenig Verständnis stieß, erreichte er einige wichtige Adressaten.

Mereschkowski bezeichnete »Zerfall des Atoms« als »genial«. Sinaida Hippius erklärte im Januar 1938 in der »Grünen Lampe«, Iwanows Held betrachte sich und die Welt auf eine wirklich neue Weise, mit einem »heutigen, fragmentierten« Bewusstsein. Auch wenn das Buch, eine tabulose Beschreibung der heimlichsten Fantasien, die Grenzen der Literatur zu sprengen drohe, sei es »ein echtes literarisches Kunstwerk«.

Wladislaw Chodassewitsch sprach Iwanow vom wiederholt erhobenen Vorwurf der Pornografie und Nekrophilie frei. Er bezeichnete das Buch als »lyrisches Poem in Prosa«. Allerdings bestehe seine Schwäche darin, dass der Autor einen »mickrigen Helden« zum Sprachrohr großer Themen gemacht habe. Der Philosoph Schestow, der an der Sorbonne gerade Vorlesungen über Kierkegaard hielt, den dänischen Wegbereiter der Existenzphilosophie, war einer der wenigen, die den existenzialistischen Sinngehalt von Iwanows Schrift erkannten.

Nach einer kleinen Auswahl der Gedichte, die Kay Borowsky übersetzte und 1990 zweisprachig in der Aldus-Presse Reicheneck herausbrachte, ist »Zerfall des Atoms« die zweite Publikation von Werken Georgij Iwanows in Deutschland. Sie vervollständigt unser Bild von der Weiterentwicklung der geistigen Traditionen des Silbernen Zeitalters der russischen Poesie in der Literatur der Emigration und ihren tiefen Verflechtungen mit der europäischen Geistesgeschichte.

Georgij Iwanow: Zerfall des Atoms. Aus dem Russischen, herausgegeben und mit einem Nachwort von Alexander Nitzberg. Mit Texten von Sinaida Hippius und Wladislaw Chodassewitsch. Matthes & Seitz, 142 S., geb., 18 €.

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