50 Jahre »Gender-Gaga«

Ein Tomatenwurf 1968 gilt als Beginn der zweiten Frauenbewegung. Heute steht vieles von deren Vermächtnis zur Debatte

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 8 Min.

Vor wenigen Monaten - im Oktober 2017 - starb die Feministin Silvia Bovenschen. Als Zeitzeugin des epochemachenden Jahres 1968 und Protagonistin der zweiten Frauenbewegung, für die dieses Jahr der Startschuss war, wird sie besonders fehlen. Auch, weil das Vermächtnis der 68er-Frauenbewegung heute Angriffen ausgesetzt ist, die von verschiedensten Seiten kommen: Rechte versuchen, die Zeit in die 1950er Jahre zurückzudrehen oder aber Feminismus rassistisch zu vereinnahmen; einige Linke sehen in ihm einen Grund für die Abkehr von Klassenpolitik.

Dabei spiegelt sich gerade in den linken Anwürfen an »den Feminismus« - den es als homogene Bewegung ohnehin nie gab, weder 1968 noch im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert zur Zeit der ersten Frauenbewegung - ein aus der drohenden Bedeutungslosigkeit von Sozialdemokratie und Linken resultierendes Unbehagen. Vor diesem Hintergrund erlebt die Haupt- und Nebenwiderspruchdebatte eine neue Blüte. Die letzte hatte sie: 1968. Bovenschen sagte dazu 2007 in einem Interview mit der »taz« über die Genossen des SDS: »Sie wollten uns mit Zetkin und Luxemburg darüber aufklären, dass wir unsere Zeit mit ›Nebenwidersprüchen‹ vertun.«

50 Jahre ’68

Mit diesem Text beginnt eine nd-Serie, die an ein geschichtsmächtiges Jahr erinnert. Prager Frühling, Studentenbewegung, Vietnam-Krieg und die Proteste dagegen, Kampf gegen Rassismus, Notstandsgesetze - dieses Jahr 1968 erschütterte die Welt, veränderte sie und hinterließ tiefe Spuren, die bis in die Gegenwart reichen. Bis zum Herbst zeichnen wir diese Entwicklungen und ihre Folgen nach.

Die Rückkehr des Hauptwiderspruchs ...

Was Bovenschen 1968 erlebte, findet sich in unzähligen Debattenbeiträgen der vergangenen Jahre erneut als Denkfigur wieder. Mit dem Verweis auf ein vermeintlich homogenes Klassensubjekt wird eine Betrachtung kapitalistischer Produktionsweise gerechtfertigt, in der Sexismus und Patriarchat nicht integraler und damit zu bekämpfender Bestandteil der Klassengesellschaft selbst sind, sondern ein »Daneben«, das irgendwann später angegangen gehöre, wenn der »Hauptwiderspruch« - also jener zwischen Kapital und Arbeit - aufgelöst sei. Um diesen wieder in den Mittelpunkt linker Politik zu rücken, müsse Platz geschaffen werden, so die Botschaft einiger Linker. Und zwar dort, wo sich - neben Antirassismus und »Identitätspolitik« - Feminismus breit gemacht habe. Dieser, meinen seine Kritiker, habe es sich zudem bequem gemacht in den herrschenden Verhältnissen und sei nur mehr Spielplatz einer liberalen, kosmopolitischen Linken.

Ein großer Unterschied besteht in den Rahmenbedingungen, unter denen die Idee des Hauptwiderspruchs heute neu belebt wird: 1968 war es ein gesellschaftlicher, linker Aufbruch, heute ist es eine linke Defensive gegen den Rechtsruck überall in Europa. Die Stichwortgeber der neuen Hauptwiderspruchsdebatte kommen aus allen Lagern und Himmelsrichtungen, sie reichen von Mark Lilla über Slavoj Žižek bis Didier Eribon. Letzterer wohl eher unfreiwillig. Der Autor sah sich gezwungen klarzustellen, dass die Botschaft seines Buches »Rückkehr nach Reims« keineswegs gewesen sei, der Feminismus trage Schuld an der Krise der Linken. Es sei gar »absurd«, dies zu behaupten, so Eribon kürzlich im Interview mit dem Schweizer Magazin »Republik«. Feminismus gehöre für ihn - wie auch der Einsatz für LGBT-Rechte oder für Einwanderer und Flüchtlinge - zum »68er-Erbe« - und dieses wiederum sei das »Allerwichtigste«. Bei Mark Lilla ist es anders: Er sieht klar die »liberale Identitätspolitik« von Minderheiten und Frauen als Ursache dafür, dass die Linke den »weißen Arbeiter« vergessen habe.

In den Hintergrund rückt bei dieser Argumentation, so die feministischen Autorinnen Emma Dowling, Silke van Dyk und Stefanie Graefe, wie Rechte und Neoliberalismus gleichermaßen von links kritisiert werden könnten, »ohne Antirassismus oder Antisexismus auf der einen und soziale Gerechtigkeit auf der anderen Seite gegeneinander auszuspielen«. Was viele Feministinnen befremdet, ist nicht das Einfordern einer neuen Klassenpolitik, sondern die demonstrierte Bereitschaft, dafür Errungenschaften der Frauenbewegung oder antirassistischer Kämpfe über Bord zu werfen, um das, was die neuen Hauptwiderspruchsapologeten für »die Arbeiterklasse« halten, besser ansprechen zu können und »zum Wesentlichen« - dem Klassenkampf - übergehen zu können.

... und ein Tomatenwurf vor 50 Jahren

Dass dieser nicht erschwert oder gar verdrängt wird, wenn er inklusiv ist, sondern - im Gegenteil - dies vielmehr Voraussetzung dafür ist, die heterogene und in ihren Interessen auch widersprüchliche Klasse von Lohnabhängigen zu adressieren, war eines der Anliegen der 68er-Frauenbewegung. Dafür wurden auch in den eigenen Reihen Auseinandersetzungen geführt. Der Frauenbewegung ging es nämlich nicht nur um ökonomische Sichtbarkeit, alternative Rollenmodelle zur im Fordismus der Nachkriegs-BRD als Norm gesetzten Hausfrauenehe und eine kulturelle Revolution der Gesellschaft. Es ging ihr auch darum, innerhalb der linken Gruppen dieser Zeit den patriarchalen Konsens zu brechen und sich eben nicht mit der Ansage, »Frauensachen« seien ein Nebenwiderspruch, zufriedenzugeben.

Für diese Auseinandersetzung steht bis heute die legendäre Rede von Helke Sander bei der Delegiertenkonferenz des SDS am 13. September 1968 in Frankfurt am Main. Sander war dort die einzige weibliche Rednerin und stellte das Konzept des Berliner Aktionsrates zur Befreiung der Frau vor. Als daraufhin ohne weitere Diskussion zur Tagesordnung übergegangen werden sollte, flogen drei Tomaten - geworfen von Sigrid Rüger - Richtung Podium und trafen den Cheftheoretiker des SDS, Hans-Jürgen Krahl.

Der Tomatenwurf war nicht nur ein Aufbegehren gegen die Idee des Hauptwiderspruchs, es war auch so etwas wie der MeToo-Moment von 1968. Zwar ging es nicht um sexuellen Missbrauch, sondern zunächst vor allem um das Problem Kinderbetreuung und Haushalt, dessen Lösung - völlig zu Recht - als Voraussetzung für die Beteiligung von Frauen an politischen Kämpfen gesehen wurde. Das Momentum bestand darin, dass durch den damit zum Ausdruck gebrachten öffentlichen Widerspruch Hunderte, später Tausende Frauen sich ermutigt fühlten, den eingeschlagenen Weg von Sander, Rüger und ihren Gefährtinnen ebenfalls zu beschreiten. Im März 1972 fand der erste Bundesfrauenkongress mit 400 Teilnehmerinnen in Frankfurt statt. Als Folge der Ereignisse rund um den Tomatenwurf organisierten sich Frauen in Erfahrungsräumen.

Die dritte Welle

Heute werden solche safe spaces vor allem mit der in den 1980er Jahren in den USA entstandenen dritten, intersektionalen Frauenbewegung assoziiert. Dieser vor allem unter seinen KritikerInnen eher verächtlich als »Identitätspolitik« firmierende Feminismus bemängelte an der zweiten Frauenbewegung, sie habe die Belange schwarzer Frauen, migrantischer Arbeiterinnen und anderer Minderheiten nicht ausreichend berücksichtigt. Heute liefern sich Protagonistinnen beider Fraktionen - in Deutschland steht »Emma« für die zweite und »Missy« die dritte Welle - zum Teil erbitterte Schlachten.

Hinzu kamen vor 28 Jahren mit der Wende Millionen ostdeutsche Frauen, von denen viele mit dem bundesrepublikanischen Feminismus nie wirklich warm wurden, die aber zugleich fassungslos waren über die Rückschritte in Sachen Abtreibungsrecht oder öffentlicher Kindererziehung, die der Westen brachte.

Das Vermächtnis von 1968

Von 1968 bleiben heute zunächst: Bilder. BH-Verbrennungen und Tomatenwürfe, »freie Liebe«-Kommunen, Demos und Kinderladenbewegung, Simone de Beauvoir und später Alice Schwarzer und ein »Stern«-Cover. Von 1968 bleiben zudem gesellschaftliche Veränderungen, die zwar nicht nur auf die zweite Frauenbewegung zurückzuführen, die aber auch ihr Vermächtnis sind - wie die erhöhte Erwerbsquote von Frauen. Der Anteil verheirateter Frauen in Westdeutschland, die einer bezahlten Arbeit nachgehen, hat sich zwischen 1950 und 1980 von 26 Prozent auf 48 Prozent fast verdoppelt. »Frauen verbringen heutzutage mehr Zeit ihres Erwachsenenlebens auf dem Arbeitsmarkt als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik«, schreibt die Politikwissenschaftlerin Daniela Grunow.

Die zweite Frauenbewegung war freilich nicht allein dafür verantwortlich, dass Frauen in den Arbeitsmarkt vorstießen - das Kapital wollte dies zum Teil auch. Wegen des Arbeitskräftemangels dieser Zeit hatte der Prozess schon etwas früher eingesetzt. Aber der Aufbruch um 1968 herum sorgte mit dafür, dass es nicht allein bei der Aufnahme in den Kreis der Lohnabhängigen blieb - Arbeiterinnen in verschiedenen europäischen Ländern, beispielsweise 1966 im belgischen Herstal oder 1968 im britischen Dagenham, führten in diesen Jahren Kämpfe für gerechte Bezahlung, Feministinnen für Rollenbilder jenseits der etablierten.

Die Hauptforderungen blieben indes unerfüllt oder wurden eingehegt: Kinderbetreuung und Haushalt sind heute noch in erster Linie Frauensache, auch wenn dies wenigstens keine unwidersprochene Selbstverständlichkeit mehr ist. Die Sehnsucht nach sexueller Freiheit wurde zu einem Teil erfüllt, aber auch recht erfolgreich für Vermarktungsstrategien von Frauenkörpern usurpiert. Armut trifft besonders oft alleinerziehende Frauen, Abtreibung ist noch immer nicht legal in Deutschland, sondern nur straffrei - die Abschaffung eines »Werbeverbots« wird gerade debattiert. Frauen, vor allem weiße und formal gebildete - sollen arbeiten und zugleich gute Mütter sein, unter dem Schlagwort »Vereinbarkeit von Beruf und Familie« wird dies verhandelt. Und ja, einige der Protagonistinnen von 1968 haben sich damit zufrieden gegeben - so wie ja auch insgesamt viele frühere Linke, gerade aus der Fraktion der 68er-»Klassenkämpfer«, heute ihren Frieden mit den Verhältnissen geschlossen haben.

Ein dankbarer Sündenbock

Im Jahr 50 nach 1968 ist jedoch nicht dies das Augenfälligste, sondern dass das Vermächtnis der zweiten Frauenbewegung unter Druck steht. Eine Welle rechter und konservativer Reaktion will heute mit »Gender-Gaga« Schluss machen und meint damit alles, wofür der Aufbruch damals stand. Nicht einmal das, was die erste Frauenbewegung erkämpfte, das Frauenwahlrecht, bleibt dabei unwidersprochen, wenn man sich die vollkommen ernst gemeinten Diskussion um die Abschaffung eines solchen in einschlägigen Internetforen zu Gemüte führt.

Doch wie gesagt - nicht nur Konservative und Rechte arbeiten sich am Feindbild Feminismus ab. Vielmehr ist er - unpräzise umrissen, wie es bei Pappkameraden oft der Fall ist - in allen Lagern, bis tief in die Linke hinein, ein dankbarer Sündenbock. Er ist wahlweise tot, harmlos, neoliberal, der Untergang der Linken. Und in der von Publizisten und Aktivisten geführten Strategiedebatte um die Zukunft linker Politik findet diese Haltung ihre Entsprechung in der Wiederauferstehung der Hauptwiderspruchsidee. Überwunden war diese zwar nie ganz. Sie wurde in den 1970er Jahren von den unzähligen K-Gruppen, die aus der Erbmasse des SDS hervorgegangen waren, leidenschaftlich verteidigt. Manche hielten immer an ihr fest. Doch die aktuellen Debatten über den Aufstieg der Rechten, die Herausforderungen der Gegenwart und eine Rückbesinnung auf die Arbeiterklasse haben sie erneut zu einer schillernden, manchen gar originell erscheinenden gemacht: und den Feminismus zur Zielscheibe.

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