Und dennoch die Musik

Erwin Johannes Bachs erschütternder Bericht: »Das Wunder von Leningrad«

  • Jan Eik
  • Lesedauer: 3 Min.

Im November 2016 gelangte in Hildesheim im Rahmen einer Konzertveranstaltung »Musikalische Stolpersteine« das sinfonische Fresko »Ruf an die Menschheit« von Erwin Johannes Bach zur Uraufführung. Das ist bemerkenswert, handelt es sich doch um das einzige hinterlassene Werk eines DDR-Komponisten, das hier zu dessen 120. Geburtstag (und 60 Jahre nach der Entstehung) zum ersten Mal erklang.

Erwin Johannes Bach, Kommunist, Musikwissenschaftler, Schriftsteller und Jessenin-Nachdichter, er schien fast vergessen. Inzwischen kann man seine Biografie bei Wikipedia und ausführlich im Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit der Universität Hamburg nachlesen.

Bach wurde 1897 in eine jüdische Familie in Hildesheim geboren und starb 1961 in Berlin (DDR). Hinter ihm lag ein dramatisches Leben mit mehr Tiefen als Höhen. Seine anspruchsvolle, von Pianisten und Klavierpädagogen noch immer hochgeschätzte »Vollendete Klaviertechnik« war bereits 1929 erschienen und 1960 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig neu herausgegeben worden. Drei Sinfonien gingen durch Emigration und Krieg verloren. Nach bitteren Jahren 1947 mit der Familie aus Taschkent zurückgekehrt, leitete Bach die Internationale Musikbibliothek in Berlin. Seine kompositorische Arbeit fand - trotz Schostakowitschs Lob - keine Anerkennung. Die CD-Aufnahme aus Hildesheim ist das einzige Zeugnis.

Wie erwähnt, war Bach jedoch auch ein Dichter und begabter Prosaautor. Seine Tochter Aljonna Möckel und Klaus Möckel haben jetzt seinen erschütternden Bericht »Das Wunder von Leningrad« in einem schmalen Heft vorgelegt, das weitere Kommentare und Dokumente zu Bachs Leben und Werk enthält.

»Das Wunder von Leningrad« haben Bach und seine Familie am eigenen Leibe erfahren. Während der Stalin’schen Verfolgungen von Odessa über Moskau und Swerdlowsk ins sibirische Tomsk verbannt, schickte man sie unmittelbar nach dem deutschen Überfall nach Leningrad. Der Ring um die Stadt schloss sich Anfang September 1941; Bach, seine Frau und die im Mai in Moskau geborene Tochter durchlitten dort die ersten Monate der Belagerung, als es praktisch kaum Hilfe von außen gab. Im ersten Jahr forderte die Leningrader Blockade mehr als 450 000 Opfer. »Mein Feind«, so schreibt Bach, »kam aus meinem Volk, Feind dem ganzen Menschengeschlechte, der meine alte Mutter in die Gaskammer tat, als ich im kämpfenden Leningrad war.«

Das ist eine der wenigen persönlichen Bemerkungen in Bachs sehr bildhaftem und eindringlichem Text. Ihm geht es um das Wunder: »Das kulturelle und das schöpferische Leben dieser Stadt ging weiter, als gäbe es keinen Krieg … Der Körper Leningrads schwand mit jedem Tag dahin, und der Geist Leningrads setzte sich über den Krieg hinweg.«

Höhepunkt seines Berichts sind - wie könnte es für den Musiker anders sein - seine Begegnung mit dem bewunderten Schostakowitsch, der ihm bis ans Lebensende verbunden blieb, und die Konzertabende in der Leningrader Philharmonie. Der unerbittliche Feind steht vor der Tür - und drinnen spielt man für die hungernden und dennoch festlich gekleideten Zuhörer Tschaikowski, aber auch Schubert und den Praterwalzer. Diese Art von Humanismus ist es, die für Bach das Wunder ausmacht.

Erwin Johannes Bach: Das Wunder von Leningrad. Herausgegeben von Aljonna und Klaus Möckel. Edition digital, 60 S., br., 10 €.

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