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Fülle statt Überfluss

Ulrich Brand und Alberto Acosta fordern eine radikale Wende.

  • Alexander Behr
  • Lesedauer: 5 Min.

Wir haben nicht mehr viel Zeit« sagte Rudi Dutschke im Jahr 1968 beim Vietnam-Kongress in Berlin. Aus seiner Sicht gab es damals eine unmittelbare revolutionäre Dringlichkeit, auf die die Versammelten reagieren müssten. Heute, so scheint es, hat sich die Dringlichkeit, die Gesellschaft zu verändern, potenziert und auf ein völlig neues Niveau gehoben. Denn es bleibt nicht viel Zeit, um die irreversiblen Schäden einzudämmen, die der global entfesselte Kapitalismus verursacht und die bei einem weiteren »Business as usual« in schwere sozial-ökologische Krisen münden könnten.

Ulrich Brand und Alberto Acosta haben nun mit ihrem Buch »Radikale Alternativen - Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann« eine Reihe von Diskussionsanstößen geliefert, um die dringenden Fragen unserer Zeit zu bearbeiten. Die beiden Autoren haben eine große Expertise in ihrem jeweiligen Fach: Alberto Acosta war Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und bis zum Jahr 2008 Minister für Energie und Bergbau. Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und erreichte vor kurzem mit seinem Buch »Imperiale Lebensweise« eine große Leserschaft.

Der mit zahlreichen weiterführenden Literaturverweisen versehene Band versteht sich als transnationaler Dialog zwischen zwei Kontinenten und Erfahrungen. Die beiden leitenden Begriffe des Buches sind Degrowth und Post-Extraktivismus (siehe Infoboxen). Sie sind der politisch-konzeptionelle Horizont für die titelgebenden radikalen Alternativen.

Worin besteht nun die Dringlichkeit unseres Handels? Die Autoren konstatieren, dass wir vor einer sozial-ökologischer Krise von zivilisatorischer Tragweite stehen. Denn trotz aller Beteuerungen von Seiten der Politik reichen die Maßnamen für den Klimaschutz bei weitem nicht aus.

Um das aktuelle Dilemma zu durchleuchten, hat Ulrich Brand in sorgfältiger analytischer Arbeit den Begriff der imperialen Lebensweise entwickelt, der en gros besagt, dass die Bevölkerungen des globalen Nordens sowie die wachsenden Mittelschichten des globalen Südens strukturell auf Kosten der Mehrheit der Menschen dieser Welt und der Umwelt leben. So weit, so bekannt. Brand stattet seinen Ansatz mit hegemonietheoretischen Überlegungen von Antonio Gramsci sowie mit der Staatstheorie von Nicos Poulantzas aus. Brand betont, dass sich die Forderungen der Subalternen aus den Ländern des Nordens in die Staatsapparate eingeschrieben hätten. So wurde mit der fordistischen Entwicklungsweise ein nicht verallgemeinerbarer Konsumkapitalismus etabliert.

Den zweiten analytischen Begriff steuert Alberto Acosta bei: Er beschreibt die Dynamik des Ressourcen-Extraktivismus, also der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in Lateinamerika, der nicht nur durch neoliberale Regierungen vorangetrieben wird. Auch progressive Regierungen wichen in den vergangenen beiden Jahrzehnten keineswegs von diesem Kurs ab. Sie vertieften ihn oftmals sogar, wie man in Brasilien, Venezuela, Ecuador, Argentinien und Bolivien beobachten kann. Denn seien es Palmöl-Plantagen, Ananas- oder Bananen-Monokulturen, Mega-Staudammprojekte oder die Förderung von Erdöl und Erdgas: Aufgrund des Wachstumsimperativs des Kapitalismus bedingt die imperiale Lebensweise den Ressourcen-Extraktivismus - und umgekehrt. Erst durch den Massenkonsum entstehe ein dermaßen hoher Druck auf rohstoffreiche Länder.

In Anlehnung an Marx und die feministische Historikerin Silvia Federici kann also gesagt werden, dass eine »fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation« stattfindet. Diese Politik heizt das Weltklima weiter an, sie geht außerdem zu Lasten von Bäuerinnen und Bauern, indigenen Gruppen und der biologischen Vielfalt.

Acosta und Brand gehen in ihrem Buch auch sorgfältig auf die Gegenargumente zu ihren Positionen ein. Denn das extraktivistische Entwicklungsmodell half den progressiven Regierungen in Lateinamerika in den letzten beiden Jahrzehnten, einer Vielzahl von Menschen den Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Der große Haken: Die Länder setzten sich den unberechenbaren Schwankungen des Weltmarktes aus. Dies führte dazu, dass nach dem Verfall der Rohstoffpreise im Jahr 2008 und später im Jahr 2014 ungeahnte Krisendynamiken entstanden - die progressiven Regierungen verloren den Rückhalt in der Bevölkerung. Acosta und Brand schlagen in »Radikale Alternativen« deshalb mit Degrowth und Post-Extraktivismus die Stärkung von Wirtschaftsweisen vor, die gegenüber dem kapitalistischen Weltmarkt resilient sind und allen Menschen ein Leben in Fülle ermöglichen. Alberto Acosta bringt zahlreiche Vorschläge, die er als Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors versuchte, umzusetzen: So war er maßgeblich daran beteiligt, das alternative Konzept des »Buen Vivir«, also des »guten Lebens« in der Verfassung des Andenstaats zu verankern.

Die Dringlichkeit der Durchsetzung radikaler Alternativen zum Kapitalismus macht sich laut den Autoren auch daran fest, dass die herrschenden Klassen in Krisen stets dazu tendieren, materielle Zugeständnisse zurückzuschrauben und demokratische Freiheiten einzuschränken. So werden die Wohlstandsinseln im Globalen Norden mit immer größerer Brutalität verteidigt, nach innen hin verfestigen sich autoritäre und faschistoide Strukturen. Der US-amerikanische Autor Omar El-Akkad hat jüngst mit seinem dystopischen Roman »American War« gezeigt, was geschehen kann, wenn die Klimakriege in den globalen Norden vorrücken: Die Zuspitzung öko-imperialer Spannungen bis hin zu Ressourcenkriegen treffen dann auch uns.

Überzeugend ist deshalb auch, dass die Autoren ihrem gemeinsamen Werk das Zitat Walter Benjamins voranstellen, das besagt, dass Revolutionen vielleicht nicht, wie Marx einst sagte, die Lokomotive der Weltgeschichte sind. Sie seien vielmehr »der Griff des in diesem Zug reisenden Menschheitsgeschlechts nach der Notbremse«. Denn ein »Weiter so« ist angesichts sozial-ökologischen Krise unseres Planeten undenkbar.

Alexander Behr, geb. 1979, studierte an der Universität für Bodenkultur Wien sowie an der Universität Wien. Er ist Politikwissenschafter, Übersetzer, Journalist und Universitätslektor und lehrt an Unis, an Schulen und bei Gewerkschaften. Behr ist Aktivist im Netzwerk Afrique Europe Interact und beim Europäischen BürgerInnen Forum.

Das Buch von Alberto Acosta und Ulrich Brand »Radikale Alternativen. Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann« ist im März 2018 im Oekom-Verlag erschienen, es hat 192 Seiten und kostet 16 Euro.

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