Weder Hetzer noch Despot oder Marionette

Susanne Schattenberg hat bisher unbekannte Seiten an Leonid Breschnew entdeckt

  • Wladislaw Hedeler
  • Lesedauer: 4 Min.

In ihrer Promotionsschrift über »Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror«, 2002 im Münchener Oldenbourg-Verlag erschienen, erwähnt Susanne Schattenberg den von 1964 bis 1982 amtierenden Ersten bzw. Generalsekretär der KPdSU, Leonid Iljitsch Breshnew, nicht. Jetzt liegt von ihr eine voluminöse Biografie des Parteifunktionärs vor, dessen berufliche Laufbahn auch ein 1935 erfolgreich abgeschlossenes Ingenieurstudium aufweist. Breschnew war, so die Autorin, »kein Theoretiker und Denker, sondern ein Pragmatiker und Ingenieur, der den Sozialismus am besten in Großprojekten verwirklicht sah«.

Ihre ersten Recherchen sind mit 2011 datiert, es folgten Studienreisen in jene Regionen, in denen Breschnew lebte und arbeitete (Ukraine, Moldawien, Kasachstan); 2016 begann die Arbeit an der Endfassung des Manuskripts. Die von der Autorin geschilderte Aktenlage in der Russischen Föderation ist bis heute desolat, relevante Dokumente sind nicht zugänglich, die Zahl der seriösen Erinnerungen gering, die der verwertbaren biografischen Skizzen dürftig. Zu den im Buch am häufigsten verwendeten Wendungen gehören nicht zufällig die Formulierungen »wir wissen nicht«, »es ist nicht bekannt« und »unklar bleibt«. Trotzdem gelingt es ihr, etliche Verfälschungen und Desinformationen von Ghostwritern aufzudecken, Legenden zu zerpflücken und Spekulationen zurückzuweisen. Diverse Lebensabschnitte erzählt sie in mehreren Variationen entsprechend dem vorliegenden Erkenntnisstand.

Anders als viele ihrer deutschen und russischen Kollegen, die über Breshnew publizierten, wendet sich Susanne Schattenberg, seit 2008 Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa und Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen, der Person und dem Phänomen nicht vom Ende her zu. Das Hauptmotiv, das der Biografie zugrunde liegt lautet: Breschnew war »weder ein Hetzer und Scharfmacher«, kein Despot, der seine Umgebung tyrannisierte, »noch eine Marionette, die von starken Interessengruppen manipuliert wurde«. Er setzte im Rahmen des Machbaren auf die Lösung von Sachfragen, scheute sich nicht, politisierte Debatten zu entschärfen. Sein Führungsstil fand bei jenen Funktionären Zuspruch, die des unter Stalin und Nikita Chruschtschow praktizierten »Schreiens, Drohens und der Erniedrigungen leid waren«. Mit dieser Kaderpolitik setzte er sich zunächst gegen seine Kontrahenten aus Stalins Umfeld und später im Führungszirkel um Chruschtschow durch.

Susanne Schattenberg beschreibt Breschnews Beziehungen zu den Frauen, seine Vorliebe für die Jagd und die schnellen Westautos, die Schaffung von Netzwerken, den Kampf um die zugesagten, aber nicht in vollem Umfang gelieferten Ressourcen und den Kampf um die Macht. Als Politiker wird Breshnew - bildlich gesprochen - zwischen Helsinki und Afghanistan verortet. Interessant ist, dass die von ihm mitgetragene Entspannungspolitik und die Sicherung sowjetischer Einflusssphären aus einer Quelle, den Kriegserlebnissen, gespeist waren.

Die Kapitel über die Gespräche mit Alexander Dubček und Willy Brandt gehören zu den aufschlussreichsten. Zu den - dem fehlenden Archivzugang geschuldeten - Leerstellen in der Biografie gehören die Auswertung des XX. und XXI. Parteitages der KPdSU durch Breschnew, sein Wirken in Kasachstan, das in die Zeit der Auflösung des Karagandinsker Besserungsarbeitslagers fällt, sowie der für die Theorie des »entwickelten Sozialismus« entscheidende Kurswechsel bezüglich der Forcierung der Konsumgüterindustrie im Vergleich zur Produktion von Produktionsmitteln.

Das Buch enthält zahlreiche Anregungen, sich mit den verschiedenen Interessengruppen zu beschäftigen, die hinter Breshnew standen bzw. jenen, die seinen Kurs infrage stellten. Mit zunehmendem Alter und wachsender Tablettensucht trat Siechtum an die Stelle von Verbindlichkeit, Freundlichkeit und Kon-stanz. Roy Medwedew war mit der These hervorgetreten, dass Breschnew als Politiker bereits lange Jahre vor seinem Ableben gestorben sei. Der Tod des zum Apparatschik erstarrten Funktionärs am 10. November 1982, der dem Druck und dem Stress nicht mehr gewachsen war, erschien vielen wie eine Erlösung. Eine Änderung im System ließ hingegen auf sich warten.

Seine Nachfolger Juri Andropow und Konstantin Tschernenko starben 1984 bzw. 1985. Im sowjetischen Rundfunk erklang immer wieder Trauermusik: 13 Mitglieder und sechs Kandidaten des ZK der KPdSU wurden vor Michail Gorbatschows Amtseinführung zu Grabe getragen.

Susanne Schattenberg: Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie. Böhlau, 661 S., geb., 39 €.

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