Logik der Umwälzung

Wolfgang Bordel, seit 35 Jahren Theaterintendant, inszenierte Friedrich Wolfs »Matrosen von Cattaro« in Neustrelitz

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Bordel sitzt nicht, er thront. Wie ein Buddha oder ein Provinzfürst im Bewusstsein seiner Bedeutung, massig und irgendwie mächtig. Der Mann beweist seit 35 Jahren (so lange ist er in Anklam Intendant), dass Erfolg und Sitzenbleiben sich nicht ausschließen. Die einen nennen ihn auch den Oblomow von Anklam, die anderen schlicht einen opportunistischen Spießer, der seinem Publikum zum Munde redet. Einen Dilettanten zumal. Richtig ist, dass er nie durch formale Experimente auffiel - vielleicht hat genau das sein Überleben in der Provinz gesichert. Bordel ist wie sein Publikum.

Wolfgang Bordel kam, als Frank Castorf (seit 1981 Oberspielleiter in Anklam) hier die große Welt des Theaters und die kleinstädtische Ordnung durcheinanderzuwirbeln versuchte. Das mit der großen Welt klappte, die kleine blieb, wie sie war - 1985 entließ Intendant Bordel seinen Oberspielleiter. So etwas wie einen Wendeknick gibt es nicht in Bordels Biographie. Nach Castorfs Rauswurf von 1985 war das Theater Anklam ziemlich leer und Bordel füllte es wieder - vor allem mit bloßer Unterhaltung.

Seitdem mögen ihn die Anklamer. Er hat sie immer vor den Zumutungen des Lebens, solchen wie Frank Castorfs, gerettet. Seitdem wird gespielt, was dem Publikum gefällt. So schaffte er es auch über die Wende - und gilt heute als »erfolgreichster Kulturunternehmer« in Mecklenburg-Vorpommern. Er leitet die »Vorpommersche Theaterakademie« (eine private Schauspielschule) und bespielt mit seinen Schülern kostengünstig nicht nur Anklam, sondern auch diverse Sommerbühnen.

Der Kulturpolitik in Mecklenburg-Vorpommern gefällt das Modell Bordel: Seht, so billig geht Theater! Zusätzlich managt Bordel mit links die Stelle als Schauspieldirektor in Neustrelitz/Neubrandenburg. Aber nur noch bis zum Ende dieser Spielzeit, dann soll es ernst werden mit einem von der Landesregierung geplanten Mega-Theaterkombinat (eine Art Abwicklungsverbund, das den hochtrabenden Namen »Staatstheater Nordost« trägt), in dem die Theaterverbünde Neustrelitz-Neubrandenburg und Stralsund-Greifswald-Putbus zusammengefasst werden. Offiziell darf man dieses bürokratische Monster aber nicht einen barbarischen Zerstörungsakt nennen, nein, es ist der Fortschritt à la Mecklenburg-Vorpommern, wo man Theater auch dann vernichtet, wenn kein Geldmangel herrscht.

Da freut man sich fast schon über ein Fossil wie Wolfgang Bordel, einfach weil er immer noch da ist. Am 1. Mai feiert er in Anklam sein 35. Intendanten-Jubiläum! Jetzt aber verabschiedet er sich aus Neustrelitz mit den selbst inszenierten »Matrosen von Cattaro«. Eine nd-Leserreisegruppe kommt zur Premiere, die halbe Friedrich-Wolf-Gesellschaft ist auch da. Zur Stückeinführung im Rang-Foyer stehen auf ausdrücklichen Wunsch Bordels rote Nelken auf den Tischen, aber an Stühlen fehlt es dramatisch. Der Mangel ist auch nicht zu beheben, jedenfalls nicht hier und jetzt - das ist dann wieder fast so wie in der DDR.

Die ersten 15 Minuten spricht die Schauspieldramaturgin, die aus dem Westen kommt und sagt, so viel Kommunismus wie in diesem Stück sei ihr unheimlich, sie hätte aus den »Matrosen von Cattaro« gern nur den Pazifismus herausgelesen. Im Programmheft ist sie namentlich nicht aufgeführt. Bordel sitzt immer noch da, unbeweglich (er hat es, sagt er, mit dem Rücken), ein Koloss mit störrischen grauen Haaren und rotem Gesicht. Manchmal lächelt er zu den Ausführungen seiner Dramaturgin.

Bordel ist eigentlich Philosoph. Er studierte erst in Rostock Landwirtschaft und dann an der Humboldt-Universität Philosophie, promovierte am Fachbereich »Philosophische Probleme der Naturwissenschaften«. Nachdem er einige Studententheaterklubs geleitet hatte und sich bei Anklam ein Haus kaufte, in der fortan die »Landkommune Dr. Bordel« residierte, galt er für ausreichend qualifiziert, das Theater Anklam (die »Strafkolonie« unter den DDR-Theatern) zu leiten.

Andreas Dresen hat 1992 seinen Debütfilm »Stilles Land« (in dem Wolfgang Bordel einen Kurzauftritt als Kantinenwirt hat) in Anklam gedreht. Ein ambitionierter Jungregisseur aus Berlin kommt an eine Provinzbühne. In dem desillusionierten Ensemble will er das Theater neu erfinden, zuerst mit Becketts »Warten auf Godot« - er gerät mit seiner ach so subversiv gewollten Inszenierung in die 89er-Wende, in der sich dann kein Mensch mehr für seine Beckett-Lesart interessiert. Den opportunistischen Provinz-Theaterdirektor spielt Kurt Böwe - ein immer noch ansehenswertes Stück deutscher Mentalitätengeschichte.

Nun also Friedrich Wolfs »Matrosen von Cattaro« in Neustrelitz, vormals war es das Friedrich-Wolf-Theater. Uraufgeführt wurde das Stück 1930 an der Berliner Volksbühne. Eine Zeit, in der man gern laut über den sich gesetzmäßig verschärfenden Klassenkampf und über »Sozialfaschismus« (damit ist die Sozialdemokratie gemeint) nachdachte. In diese Phase der Stalinisierung der KPD gehört Wolfs Stück. Einerseits ist es also zweifellos Agitprop-Theater, getreu dem Slogan Wolfs »Kunst ist Waffe« - also eine bloße Magd der Ideologie?

Andererseits ist es ein starkes Stück Dramatik anhand des rekonstruierten Matrosenaufstandes in der österreichisch-ungarischen Marine auf dem Flaggschiff Sankt Georg 1918 in der Bucht von Cattaro. Ein immer noch zu bedenkendes widerspruchsreiches Dokument, das von den Verwerfungen innerhalb der kommunistischen Bewegung zeugt.

Hier sind wir gleichsam mitten in der Urszene der revolutionären Arbeiterbewegung: Wohin führt der spontane Aufstand? In die permanente Revolution, eine Diktatur des Proletariats, in der wichtige Dinge nicht lange diskutiert, sondern »von oben nach unten« entschieden werden? Da ist die Tscheka dann immer auf der Jagd nach »Abweichlern« in den eigenen Reihen. Oder etablieren sich Arbeiterräte und Ausschüsse, die im Zweifelsfalle endlos debattieren, aber handlungsunfähig sind? Stichwort Machtfrage.

Die Premiere ist gut besucht, dabei sind insgesamt nur vier Vorstellungen angesetzt. Warum diese Zurückhaltung? Das große Zuschauerinteresse scheint ein Indiz dafür zu sein, dass es ein wachsendes Bedürfnis nach geschichtlich bedeutsamen Fragestellungen in der Kunst gibt. Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg, eine gewachsene europäische Ordnung zerbrach. Heute wächst die Kriegsangst wieder. Damals forderten die aufständischen Matrosen von Cattaro das baldige Kriegsende und Weiterführung der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk sowie Dinge wie »Gleiche Kost für Offiziere und Soldaten« oder »21 Urlaubstage ohne Anrechnung der Reisezeit im Halbjahr«. Auch im Staatssozialismus blieben letztere Forderungen natürlich uneingelöst, NVA-Soldaten erhielten im Grundwehrdienst gerade einmal sechs Urlaubstage im Halbjahr.

Wie also nähert sich Regisseur Bordel im Theater Neustrelitz dem hoch problematischen Konglomerat aus Ideologie und Kunst, das in den »Matrosen von Cattaro« vor uns ersteht? Solide am Text, sieht man von einer von ihm hinzuerfundenen Frauenfigur ab, Ruth Rasch (Josefin Ristau), als Schwester des Maats Franz Rasch. Marco Bahr spielt diesen Maat und vermag die innere Zerrissenheit zwischen Loyalität und Revolte des »Unterführers« eindrucksvoll glaubhaft zu machen. Die Bordels Phantasie entsprungene Schwester (das Element Liebe!) stört die Dramaturgie des Männer-Kriegs-Stücks, auch wenn sie inmitten des Reigens der markigen Arbeiterkampflieder, die hier zu passender und unpassender Gelegenheit angestimmt werden, auch ein Liebeslied von Renft singen darf, der in der DDR insgesamt dreimal verbotenen Band.

Erstes Bild: der Gefechtsturm des Panzerkreuzers (Ausstattung: Jörg Masser) in blau-violettes Licht getaucht. Ein wohltuend verfremdetes Schiff, dem Monument der III. Internationale nachempfunden, dem sogenannten Tatlin-Turm, der 1919 entworfen wurde und in Petrograd stehen sollte. Er sieht wie ein psychedelisch verdrehter Eiffelturm aus oder, wie Trotzki gegen den diesen Turmbau befürwortenden Lenin meinte, wie eine »Riesen-Thermoskanne«. Er blieb ungebaut, zeigt aber, wie hochfliegend die Pläne für eine neue Welt einst waren - und wie avantgardistisch ihre Form.

Dieses großartige, ebenso schlichte wie markante Bühnenbild rettet einen letztendlich doch intensiven Abend vor der Klassenkampf-Folklore, ebenso wie die sich mehr und mehr freispielenden Schauspieler (darunter erfolgreich die drohende Eindimensionalität ihrer Rollen abwendend: Michael Kleinert als Fregattenkapitän und Thomas Pötzsch als Leutnant). So ersteht ein Drama vor uns, das jenes des 20. Jahrhunderts ist - und dessen Grundkonflikte bestehen geblieben sind.

Nächste Vorstellungen: 21. April, 3. und 4. Mai

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