Der Tonfall gekränkter Erzieher

Zwischen Verteufelung und Verklärung - zur Zeitgeschichte des bundesrepublikanischen Russlandbildes

  • Jürgen Große
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Freund in der ostdeutschen Provinz, Historiker wie der Autor, fand lange keine Anstellung. Nun arbeitet er für eine Stiftung, die das Wort »Aufarbeitung« im Namen trägt. Er ist eine sensible Natur und leidet unter der Eintönigkeit des Liedes, das er für sein Brot zu singen hat. So hält er sich nach Feierabend schadlos. Da liest er die russischen Antiwestler des 19. Jahrhunderts, schwärmt von der dekadenzdichten russischen Seele, freut sich über jede Demütigung westlicher Staatsleute durch den pfiffigen Kremlchef. Wenn er beruflich in Moskau ist, berichtet er gern mit bebender Stimme, sei er sofort angerührt und aufgehoben unter »den Menschen« dort, deren Sprache er freilich kaum spricht.

Der Freund vereint zwei Mentalitäten, die typisch waren für die alte Bundesrepublik. Zwischen politischer Verteufelung und kultureller Verklärung fand sich selten ein nüchterner Blick. Vielen Altbundesdeutschen inner- und außerhalb der Medienwelt fällt es noch immer schwer, Russland als Player, als kapitalistische Großmacht unter anderen zu betrachten. Als eine Macht, die ohne Wenn und Aber kapitalistischem Zwang unterliegt. Die schöne Seelen auch dadurch verstört, dass sie die rohe Urgestalt von etwas sichtbar macht, das man schön gesprochen Modernisierung nennt.

Der Wille, in Russland etwas Besonderes, weltpolitisch Normverletzendes zu sehen, ist hartnäckig. Und wer das sucht, der wird es finden. Im Westen Deutschlands waren Philo- wie Antirussizismus die Camouflagen eines ererbten Antibolschewismus oder, wie die Entnazifizierten bald sagten: Antitotalitarismus. Der Konsalik-Blick aufs russische Volk unter den roten Zaren war eine Parodie auf Stalins Wort von den Hitlern, die da kommen und gehen, während das deutsche Volk bleibe.

Die Verfremdung Russlands zeugte aber auch von der Exilierung der Bundesrepublik aus gesamtdeutscher Schuld(en)geschichte. Schulden glaubte man bei dieser Siegermacht nicht zu haben, moralische noch weniger als materielle. Diese mentale Abdichtung gegen einen Faktor europäischer Geschichte ist noch heute in der Rede von »Russland und Europa« gegenwärtig. Sie zeugt von einer sonderbaren Erfahrungsferne und Erfahrungsweigerung im deutschen Weststaat. Auf dem »Langen Weg nach Westen«, wie es die offizielle Historik der BRD nennen sollte, stand Russland für Kriegsniederlage und Gefangenenleid, für ein passives, ohnmächtiges Kapitel.

Das waren unangenehme, aber solide Erfahrungen. Die Zugehörigkeit zum Westen hingegen war nur auf ein vages Bekenntnis gegründet. »Westliche Werte« befreiten aus nationaler Geschichte und Haftbarkeit. Sie wurden, unfreundlich gesagt, zu einer Frage der Gesinnung, die sich auch jenseits der Erfahrung pflegen lässt. Ein abstrakter Moralismus im Blick auf die Weltverhältnisse, die darin fortwirkende Weltenthobenheit und Weltscheu sind aus dieser Erfahrungsferne zu begreifen. Der Freispruch Westdeutschlands von moralisch-materiellem Bußzwang hatte eine dankbar-verklärende Sicht auf die amerikanische Besatzungsmacht gefördert. Deutlich wurde das während des Vietnamkriegs. Die Befreier als Bombenwerfer - keine Ausnahmen von der Normalität des Krieges! Doch blieb, wie sich nach 1990 zeigte, der antikommunistische, russlandfeindliche Konsens übermächtig. In ihm stimmten aus unterschiedlichen Gründen am Ende alle politischen Milieus der alten Bundesrepublik überein.

Mit den USA »hatte« man eine Siegermacht, die sich nicht konsolidieren musste. Politische, mehr noch popkulturelle Gefolgschaft fiel da leicht. Die Anpassung an diese Besatzungsmacht, im Westen Europas manchmal ironisch kommentiert, im Osten Deutschlands aufgrund härterer Haftpflichten unvorstellbar, ging bis zur Unterwürfigkeit. Sie gipfelte im fügsam-stolzen Reden von »den Alliierten«, womit natürlich nur die westlichen gemeint waren. Wenn sich bundesdeutsche Politiker unter Ausschluss russischer, aber an der Seite amerikanischer Kollegen quasi als Sieger des Zweiten Weltkriegs feiern, entspricht das Bizarre der Realität: Die Bundesrepublik wurde durch ihre historische Sonderbehandlung Europas größter Kriegsgewinnler.

Eine vergessen geglaubte, logisch etwas anrüchige Formel kommt da in den Sinn: »falsches Bewusstsein«. Als kühler Machtmensch jenseits von Erlösungsansprüchen wirkt Putin seinen Gegenspielern oft überlegen, zumindest intellektuell. Bei seiner moralischen Charakteristik wird oft »der ehemalige kommunistische Geheimagent« (»Welt«, »Zeit«, »taz«) erwähnt. Doch scheint ein klar blickender Amoralist berechenbarer als jene Macht, die stets das Gute will und Gutgemeintes - siehe Nordafrika und Nahost - schafft.

Die Genese des nationalistischen Russlands aus der kommunistischen Modernisierung ist unzweifelhaft. Was freilich die alte Klassenkampfrhetorik und die aktuelle russische Propagandasprache verbindet, ist, dass beide kaum Illusionen über das eigene Tun erlauben. Weder die leninistische Auffassung von Ethik noch die neonationalistische Praxis sind mit weltmoralischem Missionseifer kompatibel. Mit einer Sprechweise also, die sich auch weite Teile der westlichen, zumal der westdeutschen Linken zu eigen gemacht haben; man denke an die rot-grüne Außenpolitik der 1990er Jahre. Das Vokabular von »warnen«, »vergelten« und »bestrafen« war schon damals zu vernehmen. Dieser Wille und Zwang, die eigenen, normalegoistischen Interessen im Gewande moralischen Bessermenschentums vorzutragen, ist der wichtigste US-Kulturimport in Westdeutschland gewesen.

Als Musterschüler purer Westlichkeit übertrafen Westdeutschlands Nachkriegslinke in ihrem Eifer, alle konkurrierenden Mächte als Inkarnationen des Bösen zu entlarven, sogar ihre amerikanischen Lehrmeister. Der charakteristische Erzieherton, den man heute gegenüber Russland vernimmt, stammt aus diesen angenehmen Tagen der Unmündigkeit. Westdeutschlands Suspension von selbstständiger Außenpolitik ließ einen moralischen Überlegenheitsglauben wuchern. Die Empörung über Russland ist echt. Imperiale Interessenpolitik, ja bereits die Artikulation staatlicher Interessen beurteilt die mediale Mehrheitsgesellschaft West stets anders als die eigene, nämlich moralisch, sobald der Akteur in Moskau sitzt. Beängstigend daran: Was woanders als Propagandasprache dient, ersetzt der bundesrepublikanischen »Meinungselite« (so nennt sie sich ja!) realpolitische Urteilsbildung.

Ostdeutschlands Verhältnis zu Russland war zwangsläufig erfahrungs-, nicht meinungsfundiert; man hatte für die Kosten des Krieges zu zahlen. Leichtfertigem Reden von Krieg und Frieden ist solche Erfahrung nicht förderlich, das merkt man bis heute. Auch eine wachsende Zahl Westdeutscher wünscht sich Normalisierung, was unter anderem bedeuten würde: Verzicht auf den isolierenden, moralisierenden Blick. Doch von »taz« bis »Welt« dominiert der Ton gekränkter Erzieher. In den Texten und Bildern, die Putin lächerlich machen, wird die gute alte Zeit beschworen, als »die Alliierten« vor der Welt sowie deren selbstständiger Wahrnehmung schützten.

Jürgen Große ist Historiker in Berlin. Letzte Buchpublikation: Der ferne Westen. Umrisse eines Phantoms, edition fatal, München 2017, 192 S., br., 15 €.

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