Im besten Sinne Utopie

Festspielhaus Dresden-Hellerau: »CoroTopia« mit Sängerinnen und Sänger aus aller Welt

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Das war ein Fest. Singweisen aus dem Leben und Chöre höchster Kultur waren zu erleben. Alte Vokalität leuchtete auf, um heutigen Klangvorstellungen Platz zu machen. Jung, strahlend, so ernst wie freundvoll einer jeder, der an dem Abend im Festspielhaus des Europäischen Kunstzentrums Hellerau teilhatte.

Die Sonne ging am Freitag gerade unter. Vor dem Haus sammelte sich Volk. Es erwartete das Schlusskonzert von »CoroTopia«, der 4. Dresdner Chorwerkstatt für neue Musik. Der Titel leitet sich, kaum anders zu deuten, von »Utopia« her. Und das passte auf das, was gemeistert wurde. Gute Musik weist immer auch in Gefilde, die noch nicht betreten sind. Auf Besseres. Auf die Hoffnung, die Einlösung des Noch-Nicht, wie der Philosoph Ernst Bloch sagt. Sie birgt also im besten Sinne »Utopie«. Und sei es denn möglich, von dieser einen Hauch bewusst zu machen, was Besseres als die menschliche Stimme eignete sich, »Utopien« auszudrücken? Die Tage zuvor bestanden aus Proben, Besprechungen von Konzeptionen, Inhalten, Kompositions- und Gesangstechniken und deren Umsetzung, wie es sich für eine Chorwerkstatt gehört.

Drei Chöre sangen in dem akustisch fabelhaften Festspielsaal, getrennt und zusammen. Zuerst sei der Projektchor VoiceVenture genannt, bestehend aus Mädchen und Jungen, die teils von weit herkommen, aus Afghanistan, Syrien, Libyen, Irak, Palästina, Katalonien, der Bundesrepublik und anderen Ländern. Daneben aus Poznán der Paderewski Chamber Choir. Er ist benannt nach dem polnischen Komponisten, Klaviervirtuosen, Nachwuchsförderer und Freiheitskämpfer Ignacy Jan Paderewski (1860 - 1941). Seltener Fall: Nach dem Ersten Weltkrieg war der Künstler für kurze Zeit Außen- und Premierminister seines Landes. Die Stadt ist berühmt für ihre hohe Chorkultur. Der Posnáner Knabenchor trat und tritt in Sälen und Kirchen der Welt auf. Zentral wirkte der renommierten Dresdener Kammerchor mit, geleitet von Hans-Christoph Rademann. Rademann zählt zu den großen Chordirigenten unserer Zeit. Er stammt aus Dresden und ist Inspirator und Leiter von »CoroTopia«. Unter ihm erstand ein breites Repertoire musikhistorisch bedeutender Chor- und Oratorienmusik, von der altniederländischen über die barocke, klassische, romantische bis zur impressionistischen und expressionistischen Literatur. Zugleich zögerte er zu keiner Zeit, aufzuführen, was heutigen Tags für Stimmen (und Instrumente) erdacht wird. Also Neue Musik - von arrivierten wie jungen Komponistinnen und Komponisten. Um dem Nachdruck zu verleihen, ist »CoroTopia« ein beispielhaftes Forum.

Zu begreifen, dass Musik in den Belangen der Gegenwart verankert sein muss, ist zugleich ein Begreifen, dass sie mit der Gegenwart der Kunst, wie sie sich heute darstellt, verwoben ist. Also auch mit modernsten Techniken etwa des Singens. Das wurde wunderbar hörbar an dem Abend.

Komponist und Chorleiter Carsten Hennings, der solche Ideen vertritt, jung, hoffnungsvoll, experimentierte mit VoiceVenture das eigene Stück »Was bleibt« durch. Mut dazu fassten junge Leute beiderlei Geschlechts. Alles Laien. In Alltagsklamotten traten sie im Halbkreis vor Publikum, was überhaupt nicht störte. Das erste, was sie machten: Luftstöße, tiefes Ein- und Ausatmen. Gemurmel, Geflüster, als wären sie irgendwo versteckt, und es dürfte nicht heraus, was sie denken und gern aussprechen würden. Was bleibt? Eine Ältere tritt hervor, grellfarben, was sie anhat, sie schaut nach vorn, ernst, klaren Blicks, und spricht Sätze aus der UN-Deklaration für Menschenrechte. Wieder Atmen, leise Schreie, Flüstern. Aber das genügt nicht. Bald schauen sie einander an, tanzen, folgen ihren Ursprüngen. Ausgelassenheit herrscht zuletzt trotz aller Unbill, die nicht ruhen will.

Sodann die technisch hochanspruchsvolle, spannende Komposition »Vokale« von Malika Kishino, einer Japanerin. Vorweg sprach sie über ihr Stück und Hans-Christoph Rademann gab mit seinem Kammerchor einige Kostproben daraus, durchgängiges Prinzip des Abends, woran sich die Wiedergabe des ganzen Stücks anschloss. Kishino, geboren 1971, komponierte ihr Stück nach eigenem Bekunden gleichsam von zwei entgegenstehenden Hirnhälften aus. Klänge im Makro- und Mikrobereich, buddhistischen Traditionen folgend, aus denen sie kommt, Fingerspiele an den Lippen, Atemgeräusche, Glissandi auf engstem, Raum, Ausnutzung der räumlichen Breite des Klangs, insgesamt ungewöhnliche Artikulationsweisen prägen diese hoch entwickelte Komposition auf einen farbigen Text von Arthur Rimbaud, übertragen von Stefan George.

Zwischendurch postierte sich eine weitgestreckte Gruppe um das Publikum herum und sang ein reines Klangstück, das sich aus unendlich fließenden Tönen zusammensetzt. Den Schluss bildete die Komposition »Sanctus« des jungen Maximilian Schnaus. Ein wunderbar durchgehörtes, technisch raffiniert gebautes, glänzend umgesetztes Stück (von den Chören aus Poznán und Dresden unter Rademann), das jenen Teil des katholischen Mess-Zyklus in seine Bestandteile zerlegt, um sie in neuer, ungehörter Art wieder zusammen zu bauen.

»CoroTopia« ist mehr als Spiritualität. »CoroTopia« weist auf eine andere Welt.

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