Im Schatten des Flutlichts

Christoph Ruf entdeckte die Strahlkraft des Fußballs in längst vergessenen Ecken und abseits der gewohnten Glitzerwelt

Es stimmt, dass Fußball eine enorme Strahlkraft hat. Nur, dass er zuweilen in die Ecken hineinscheint, die man in der Glitzerwelt des offiziellen Fußballs schon lange vergessen hat.

Ich kann machen, was ich will: Irgendetwas zieht sich in mir immer zusammen, wenn wieder mal die Rede auf die angeblich so gesellschaftsrelevanten Bindekräfte des Fußballs kommt. Ich wittere dann schnell ein Ablenkungsmanöver von der nicht ganz so rührseligen Tatsache, dass sich mit ihm eben vor allem sehr viel Geld verdienen lässt. Und auch, wenn ich als Kind ein fleißiger Autogrammsammler war - seit ich älter geworden bin, verstehe ich nicht mehr so ganz, warum ein Trottel, der im Fernsehen zu sehen ist, deswegen im echten Leben ein weniger großer Trottel sein soll.

Das Phänomen Prominenz erschließt sich mir also nicht so recht. Auch die weit verbreitete Volksweisheit, wonach der Fußball hierzulande einzig und alleine im Ruhrgebiet lebe, halte ich in Zeiten der Globalisierung für fragwürdig. »Hier muss nur ein Flutlicht angehen und die Leute rennen hin«, sagt man von Oberhausen bis Hamm. Nun ja, Ruhris leben heute zu Zigtausenden in Berlin, dafür fahren Dortmund und Schalke im Sommer nach Asien, um neue Zielgruppen zu erschließen, wie ihre Manager so schön sagen. Alles andere ist Folklore, was schon so ähnlich klingt wie Kokolores. So viel zu den gesicherten Erkenntnissen.

Nun hatte ich in der vergangenen Woche einen Ortstermin im Ruhrgebiet, der gleich alle drei Gewissheiten erschütterte. Essen ist eine Stadt, dessen Fußballverein - gemessen an seinen sportlichen Erfolgen - eine enorm große Gefolgschaft hat. 6800 Zuschauer kommen im Schnitt zu den Spielen des Tabellenelfte in der Regionalliga West, das ist eine der vierten Ligen. Die Gegner heißen da Westfalia Rhynern, Erndte- oder Wiedenbrück.

Das Spiel gegen Rot-Weiß Oberhausen ist für einen Essener das Lokalderby oder wenn Alemannia Aachen kommt. Noch so ein Verein mit vielen Fans. In Essen fühlt man sich, als öffne sich der Vorhang zur großen Bühne, auf der man jahrzehntelang gespielt hat, wieder ein paar Zentimeter. Ein Fan von Rot-Weiß Essen weiß, dass er von Schalke- oder Dortmund-Fans verwundert bis spöttisch angeschaut wird. Genau daraus zieht er auch seinen Stolz. Und ein Spieler, der dort kickt, weiß, dass er in weitgehender Anonymität zum Bäcker gehen kann. Thomas Müller ist dann doch bekannter als Simon Skuppin.

Mein erstes Schlüsselerlebnis in Essen war, dass auch Simon Skuppin Autogrammkarten vergibt. Er trug einen Stapel davon zur Veranstaltung einer Grundschule und stieg zwei Stunden später ohne Autogrammkarten wieder ins Auto. Ich tat das auch und telefonierte mit einem Fußball-Promi in anderer Angelegenheit. Und ganz so, als formuliere er da eine unumstößliche Wahrheit, stellte der fest, dass Fußballfans letztlich allesamt auf die Champions League hin fieberten. »Real gegen Bayern, das wollen die sehen«. Wirklich?

In Essen trugen jedenfalls ausgesprochen viele Grundschüler RWE-Trikots. Sie freuten sich, wie sich nur Kinder freuen können, über die Autogrammkarten der RWE-Spieler, von denen ich gar nicht gedacht hätte, dass sie existieren. Die Kinder waren glücklich, weil sie die Unterschrift eines Spielers bekommen haben, den außerhalb der Redaktionsräume des »Reviersport« wohl nur dessen Freundin kennt. Weil er für Essen spielt, ihre Stadt, ihren Verein.

Simon Skuppin und einen anderen RWE-Spieler namens Marcel Lenz traf ich im Auftrag eines Magazins, das Bildungsthemen behandelt. Im Essener Norden machen 20 Prozent eines Schülerjahrgangs Abitur. Im Essener Süden, auf der anderen Seite der A 40, sind es 80 Prozent. Was das mit Rot-Weiß Essen zu tun hat, nun die Prominenz des größten örtlichen Fußballvereins nutzt das aus, um Schülerinnen und Schülern das Thema Bildung näherzubringen. Das geht, weil Fußball eine Autorität hat, die mancher Pädagoge gerne hätte. Ungerecht, aber Fakt.

Es stimmt also doch, dass der Fußball eine enorme Strahlkraft hat. Nur, dass er zuweilen in die Ecken hineinscheint, die man in der Glitzerwelt des offiziellen Fußballs schon lange vergessen hat. Und so ganz nebenbei: Essen liegt tatsächlich im Ruhrgebiet. Den Spruch von den Flutlichtmasten, die nur angehen müssen, um die Massen anzulocken, muss ich mittlerweile relativieren: Das gelingt im Ruhrgebiet nämlich auch am helllichten Tag.

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