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Mütter aus Odessa

Martin Leidenfrost besuchte das Gedenken an einen Pogrom vor vier Jahren in der ukrainischen Metropole

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 3 Min.

Odessa ließ am 22. April seine flirrend-luftige Erotik spielen, zum Flanieren ist ein »Griechischer Park« bei der Potemkinschen Treppe hinzugekommen, das Meer war blau. Ich kam zum vierten Jahrestag des unbegreiflichen Pogroms vom 2. Mai 2014. Bei einer Straßenschlacht im Zentrum waren sechs Menschen gestorben, danach mindestens 42 im brennenden Gewerkschaftshaus. Fast alle Toten waren prorussische Aktivisten.

Glaubt man den Internetseiten beider Lager, erscheint der 2. Mai als Krieg zwischen Engeln. Die Proukrainer rücken Fotos in den Vordergrund, die den nationalistischen Aufmarsch als Strandmode-Happening milchgesichtiger Teenager zeigen. Die Prorussen stellen die anrührendsten Opfer heraus: Vadim, 17, der Jüngste, mit wahrem Engelsblick. Kristina, 22, eine harmlos wirkende Blondine. Der muskulöse Beau Gena, »russisch-imperialer Patriot«, dem drei Tage nach seinem Tod eine Tochter geboren worden sei.

Ich kontaktierte beide Lager. Die Prorussen von podumaj.com antworteten nicht. Die Proukrainer von 2mayodessa.org, einer von George Soros unterstützten Initiative zur Rekonstruktion der Ereignisse, lehnten ein Treffen ab. Sie bezweifelten die von mir erklärte Neutralität und warfen mir ungenügendes Interesse am ersten Toten vor, an Igor Iwanow vom »Rechten Sektor«. Den 2. Mai nannten sie »eine der blutigsten Episoden der Aggression Russlands gegen die Ukraine«, Vadim und Gena »nahmen an der Seite des Aggressor-Landes an diesem hybriden Krieg teil«. Einig waren sich die feindlichen Lager nur darin, dass der ukrainische Staat die Aufklärung hintertreibt. Ausschließlich prorussische Odessiter wurden für das Massaker in Untersuchungshaft genommen, über dreieinhalb Jahre, die 19 Angeklagten wurden 2017 freigesprochen.

Ich ging vor das eingezäunte Gewerkschaftshaus, zur wöchentlichen »Trauer-Demo« der »Mütter von Odessa«. Einige der Hinterbliebenen kommen nie, etwa die Familien von am Antimaidan beteiligten Regionalpolitikern. Von den maximal 50 Demonstranten waren gut die Hälfte Angehörige, fast alles Mütter. Ihre dominant auftretende Leiterin Viktoria Machulkova hatte eine Petition gegen die Exhumierung der Toten aufgesetzt, nach meinem Eindruck unterschrieben alle Anwesenden.

Die meisten Mütter erschienen mir als normale Odessa-Omas, wie sie mir seit 2001 vertraut waren. Nur wenige wirkten marginal, so das gebückte Weiblein mit gesticktem Lenin-Porträt - »Wladimir Iljitsch hat Geburtstag!« -, das Schokis ausgerechnet aus der Produktion ihres verhassten Präsidenten Poroschenko verteilte. Ein Funktionär der verbotenen KP, gebürtiger Libanese, warb in einer schwungvollen Rede für seine Mai-Parade. Zwei oder drei Mütter riefen: »Wir kommen.« Dann bereitete die Leiterin die Gedenkdemo am 2. Mai 2018 vor: keine prorussischen Symbole wie das Sankt-Georgs-Bändchen tragen, »das wird gegen uns verwendet«. Sie sagte richtig voraus, dass der Staat über 2000 Polizisten und Nationalgardisten aufbieten würde, »wir müssen mit allem rechnen«. Am 2. Mai sollten sich dann nur 200 Leute hinauswagen.

Als die Mütter von Odessa gegangen waren, blieb ich mit drei älteren Frauen zurück. Eine sprach wenig, eine war ein hageres Betmütterchen aus dem Antimaidan-Zelt der orthodoxen Kirche, das an der Stelle der abgerissenen Erzengel-Michael-Kirche aufgeschlagen worden war, und die dritte war eine Medizinprofessorin mit Gewaltfantasien gegen »Bandera-Faschisten«. Sie erzählte, sie sei im erstickenden Rauch des Gewerkschaftshauses über die wüst zugerichtete Leiche der blonden Kristina gestolpert.

Ich fragte die Drei, was sie vom Leiter des Polizeieinsatzes im Jahr 2014 hielten. Dmitrij Furtschedschi floh nach Transnistrien, bekam einen russischen Pass und wird verdächtigt, mit seinem Nichteingreifen die Opferzahlen bewusst hinaufgetrieben zu haben. Für die Medizinprofessorin war Furtschedschi ein Held, er habe sie und viele andere durch Verhaftung vor dem zugereisten ukrainischen Mob gerettet. Die beiden anderen widersprachen leise.

Wir standen da lange. Die Drei erzählten von der Frau, die auf dem Fenstersims stehend um Hilfe schrie, während der unten stehende Mob zurückschrie: »Stopft ihr das Maul!« Der Schatten des Gewerkschaftshauses wurde immer länger, wir gingen immer weiter weg, in die Sonne. Einmal wurde ich zur Seite gezogen: »Hier nicht hinstellen, hier sind Menschen gestorben.«

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