Was so ein Knie schmeckt

Zum Tod des Schriftstellers und Langläufers Günter Herburger

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist wohl ewig so: Die eigentliche Botschaft wird in den Wind geschlagen, die wahre Lehre geleugnet. Dass der Läufer von Marathon nach etwas über zweiundvierzig Kilometern tot in den altgriechischen Staub sank, war ein deutliches Zeichen: Hände, vor allem Füße weg von der Wahrheit, zumindest von der Idee, sie weiterzutragen. Begierig nahm die Nachwelt das Zeichen dieses tödlichen Unglücks auf, um gründlich ihre Missverständnisse zu betreiben. Denn nicht die Erkenntnis gewann, wir seien zu solcher Art Belastung (Wahrheit wie Dauerlauf) ungeeignet, sondern die uralt schöne Folter der Selbstüberwindung setzte sich durch: Wir können es nicht lassen, unsere Existenz dort zu prüfen, wo ihre Nahtstellen zur Auslöschung am dünnsten sind. Wir kommen nicht aus ohne jenes Abenteuer, das der Willen will, indem er sich gegen den Körper behauptet. Es ist der Kampf der Freiheit gegen die Fessel, des hochfahrenden Geistes gegen die niederdrückende Schwerkraft. Freilich weiß jeder Läufer angesichts weit gesteckter Ziele: Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit - dieses Konfliktfeld umriss der Philosoph Lothar Matthäus mit den sinnscharfen Worten: »Nur der Fuß weiß, wo ihn der Schuh drückt.«

Der 1932 im Allgäu geborene Autor Günter Herburger hat aus dem langen Lauf zur Wahrheit seine Literatur entwickelt - und den Geist gleichsam nie aus den Fängen des Körpers entlassen. Er war in seinen Romanen und Reisebeschreibungen, in seinen Gedichten und Kinderbüchern ein Läufer, ein von Wegen und Windungen Besessener: die Welt unter den Sohlen. Aber überm Scheitel, auf den die Sonne knallt, der Regen prallt, prangt der Himmel jener Träume, die alle Schwerkraft besiegen. Die Läufe seines Lebens und des Lebens Lauf: Herburger verband auf eine, fast möchte man sagen: leichtfüßige Weise, frei von Eifer, all seine Marathon-Geschichte(n) mit grundsätzlichen Haltungen; er beschreibt, wie beides sich bedingt, befehdet, wiederfindet, weitertreibt.

Die »Thuja«-Trilogie, der Roman »Wildnis, singend«: ein zäher Phantast unterwegs in Deutschland, die Klimazonen freien Denkens durchstreifend, die besseren Gegenden ersehnend; revolutionär gesinnt, religiös offen, im besten Sinne: unternehmungs-lustig. Mit Johann Jakob Weberbeck schuf er, in »Thuja«, einen Helden des Unterwegsseins, eine weltgeschichtliche, im Allgäu verwurzelte Hymne auf den Kurier, dieses zu Wachheit und List und Mut verdammte Wesen zwischen den Fronten, zwischen den Wahrheiten, die von Front zu Front wechseln. Fronten im Krieg, Fronten auch in jedem Frieden - Wahrheit stets als das, das sich einzig damit beglaubigt, dass es widerlegt werden kann.

»Lauf und Wahn«, »Traum und Bahn«, »Schlaf und Strecke« heißt sein Bewegungs-Dreiteiler - seit 1983 nahm Herburger an extremen Langstreckenläufen teil. Mit Verspieltheit und tückischem Witz wird die Grenzüberschreitung beschrieben, die freilich nicht zu denken ist ohne die Enttäuschung. Enttäuschung ja, Entzauberung nicht: Herburger lief und schrieb und fühlte beides, »als würden Augen riechen, Ellenbogen sehen, Knie schmecken - eine wunderreiche Erweckung entlang von Stolz und Pein«.

Sport ist schmutzig und Raubbau. Wer Marathon läuft, ist Dialektiker: Er hilft und schädigt sich; er tut etwas Sinnloses, das aber mit der bewusst betriebenen Illusion von Sinn. Und was den Geist betrifft, der sackt beim Laufen ins Schwarze. Der japsende Mensch fühlt einen Hauch jener ehrenwerten Idiotie, zu seiner Selbststeigerung just die Mittel anzuwenden, die ihn (etwa bei Kilometer 35) wie ein schlappes Tier aussehen lassen, das von der Herde (Horde) zurückgelassen wurde. Günter Herburger lief und schrieb, er schrieb und lief, hoffend auf einen Ort am Ende, »an dem ich zufrieden bin«.

Beobachtungen unterwegs als eine Biografie der Ansprüche und Anforderungen, der Anwandlungen und Anverwandlungen. Auch in Drehbüchern, Fotonovellen, Essays, Hörspielen, zuletzt im Buch »Humboldt« - Herburger, der einstige Straßenarbeiter und Journalist, schrieb mit ungezügelter Lust am Viel und Immermehr. Literatur der Lust, Dinge davor zu bewahren, sie einzig mit Rationalität zu ergründen und auszumessen, dann zu verziffern und auf Begriffe zu bringen. Um es paradox auszudrücken: Das Resultat, um das es in jedem Lauf geht, ist der Tod seines ursprünglichen Geheimnisses; das Ergebnis, das alle anstreben, stört im Grunde jene angeborene Selbstverständlichkeit, mit der dieses Spiel immer wieder in eine wunderbare Unberechenbarkeit hineinrutscht. Bei einem Lauf wird er gefragt, wo er denn so lange abgeblieben sei: »Ich habe mich ein paar Kilometer unter der Oberfläche aufgehalten.«

Leidenschaft verhilft jedem Leben zu etwas Spannung, dann, wenn uns die Angst vor der Gewöhnlichkeit wieder verlässlich zu ertappen hofft. Frag einen, wie’s geht, und er antwortet: Es läuft so. Vor solch langweiliger energiegedimmter Antwort lohnt es sich wahrlich, schweißtreibend davonzulaufen. Wie Günter Herburger. Der nun das bitterste aller Ziele erreichte - im Alter von 86 Jahren ist er in Berlin gestorben.

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