Proaktiv mit Bauchgefühl auf Augenhöhe

Von Sprachschrott und Faschismusbereitschaft - Auszüge aus einem politischen Tagebuch

  • Klaus Weber
  • Lesedauer: 9 Min.

15. Juli 2016: Gerechter Mindestlohn - Große Empörung in Frankreich: Staatspräsident Hollande weist den Vorwurf zurück, die Kosten für seinen Friseur seien »überhöht«. Sein Argument: Er habe zehn Prozent des Personals im Regierungspalast gestrichen. Und wer Personal abbaut - das hat er vom Kapital gelernt -, darf sich auch privat einiges gönnen: Der Friseur bekommt monatlich annähernd so viel wie ein Minister in Frankreich: 10 000 Euro. Anstatt sich darüber zu empören (das könnte man/frau aus Marx’ Kritik an Max Stirners Empörungsthesen lernen; MEW 3, 360 ff.), sollte diese Meldung als Kampfmittel für die Hebung des Mindestlohns genutzt werden: monatlich 10 000 € für Friseur- und alle anderen Dienstleistungen. Allez! Tremblez, tyrans!

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Das Buch

Klaus Weber, Jahrgang 1960, lehrt Psychologie in München und Wien.

Beim Verfassen seiner politischen Chronik zweier Jahre orientierte er sich an Kurt Martis »Politisches Tagebuch«, Hannah Arendts »Denktagebuch«, Volker Brauns »Werktage. Arbeitsbücher« und Wolfgang Fritz Haugs »Jahrhundertwende«: »Das Schreiben selbst ist die Methode, mir das Erlebte, Gehörte, Gelesene noch einmal anzueignen, indem ich es in andere Zusammenhänge einbette, die den entfremdeten und ideologischen Charakter des unmittelbar Einleuchtenden so zerschneiden, dass dahinter die gesellschaftlichen Vermittlungen sichtbarer werden.«

Das Buch, dem die nebenstehenden Auszüge entnommen sind, erscheint dieser Tage im Argument Verlag.

Klaus Weber: Resonanzverhältnisse. Zur Faschisierung Deutschlands. Politisches Tagebuch. Argument Verlag. 599 S., gebunden, 29,80 Euro.

19. Juli 2016: Fluchtwege: hinein und hinaus - »Deutsche Eliten befürchten neue Flüchtlingswelle«, titelt die FAZ im Wirtschaftsteil. Da möchte man/frau doch gerne wissen, wer die »deutsche Elite« ist: »Unter den Teilnehmern (der Befragung, -kw-) sind 346 Vorstände oder Geschäftsführer aus der Wirtschaft, 114 Führungskräfte aus der Politik (Präsidenten oder Vizepräsidenten der Parlamente, Fraktionschefs, Minister und Staatssekretäre aus Bund und Ländern). Aus der Verwaltung wurden 46 Vorsitzende oder Präsidenten von Bundes- und Landesbehörden sowie Anstalten des öffentlichen Rechts befragt« (FAZ). Keiner von denen wird unter 7000 Euro netto verdienen. Ich wäre allzu gern dabei gewesen, als der Chef der Bayerischen Landesgewerbeanstalt mit dem Vorstand von Daimler und dem Geschäftsführer von Adidas darauf kam, dass die »Aufnahmefähigkeit Deutschlands bei 360 000 Menschen« liegt. Zwei Drittel der Spitzenkräfte aus der Wirtschaft sehen »wenig oder gar keine Chance, die Flüchtlinge in die Gesellschaft einzugliedern«. Kein Wunder - weil exakt sie es sind, die den Flüchtlingen den Weg in die ökonomische (Un-)Abhängigkeit verwehren. Knapp zwei Wochen vorher berichtet die FAZ, dass sie die dreißig den Deutschen Aktienindex (DAX) anführenden Unternehmen mit insgesamt über eine Billion Euro Umsatz danach fragte, wie viele Flüchtlinge sie eingestellt hätten: »Die Antworten ergaben: exakt 54. Davon sind allein 50 bei der Deutschen Post untergekommen, zwei weitere jeweils beim Softwarekonzern SAP und beim Pharmahersteller Merck« (FAZ 4.7.2017). Deutschkurse, Nachschulungen, Weiterbildungen etc.: Das Kapital weigert sich, Zusatzkosten bei der »Integration« der Flüchtlinge zu übernehmen. Diese soll der Staat leisten, an den sie ebenfalls - mit legalen Tricks und Gaunereien - so wenig wie möglich an Steuern abführen …

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Wasserdicht - Eine, die zu den »Eliten« gehört, die SPD-Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens, Hannelore Kraft, ist »erleichtert« - so sagt sie es dem WDR -, dass die Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und nicht zu uns kommen. Sie drückt es nur etwas anders aus: »Wir waren in den Strukturen überfordert. Deshalb bin ich schon froh, dass die Grenzen jetzt erst mal dicht sind« (FAZ).

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21. Juli 2016: Sprachschrott - Die Frage, wie ideologisches Material in die Subjekte kommt, um deren Zustimmung zum schlechten Bestehenden zu organisieren, kann ganz praktisch beantwortet werden: Roland Reuß nennt diejenigen Wörter, welche die Verhältnisse ent-nennen, sie ummodeln, sie »auf Linie bringen«, Sprachschrott: »Man kopiert die Sprachgesten der scheinbar Mächtigen und sucht damit andere (und vor allem sich selbst) über seine scheinbare Ohnmacht hinwegzutäuschen: ›Zeitfenster‹, ›Schritte in die richtige Richtung‹, ›proaktiv‹ - Sprachschrott von Deponie 21«. Gemeinsam mit Student_innen - sie auf die Fährte setzend - suche ich nach weiteren Worten, welche die Verzweiflung des Alltags ins neoliberale Glück drehen wollen. Gefunden haben wir: auf Augenhöhe, Bauchgefühl, zeitnah, zukunftsweisend, definitiv, soziale Netzwerke. Das passive Sitzen vor dem Computerbildschirm mit Betätigung eines Gegenstands, »Maus« genannt, wird sprachlich ins Aktive gedreht durch Sätze wie: »Ich surfe im Netz« oder »Wir treffen uns im Chatroom«. Zu enttarnen und damit in ihrer ideologischen Funktionalität zu erkennen sind die Wörter, wenn sie in einen anderen Kontext transponiert werden. Der Satz »Ich fahre meinen Computer hoch« kann durch die Frage »In welches Stockwerk?« ebenso »geknackt« werden wie das Reden über ein Bauchgefühl durch Konfrontation mit Wörtern wie Arschgefühl oder Hirnverstand. Wer jemals unglücklich verliebt war und das körperlich spüren konnte, weiß, dass der Liebeskummerschmerz nicht im Bauch, sondern in der linken Brusthälfte »geortet« werden kann. Meine Großmutter hatte für ein solches Gefühl noch das Wort »Herzeleid« parat.

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12. September 2016: Zeugenstand - Ein Liebesroman von Rafik Schami: Die dunkle Seite der Liebe. Labyrinthische Erzählanordnung, Hunderte von Kapiteln mit kleinen damaszenischen Vignetten, der schönste Absatz darin: »Man muss gelassen lieben. Liebe soll dich erhaben machen. Sie befähigt dich alles zu geben, ohne dabei etwas zu verlieren. Das ist ihr Zauber. Aber bei uns wollen die Leute einen Ehevertrag unter Zeugen schließen. Stell dir vor, unter Zeugen, als ginge es um ein Verbrechen« (2013, 239).

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Neue Logik - Hitler war kein Nazi, Marx war kein Kommunist, und ich bin Ostfriese: Daniel Deckers erklärt seinen Leser_innen in der FAZ, dass die AfD weder »rechtspopulistisch« noch »rechtsextrem« sein kann: »Ersteres und Letzteres ist auszuschließen«. Der eine Begriff sei »vage«, der andere täte den Wähler_innen (Sympathisant_innen) »unrecht«. Seien dies doch vor allem Menschen, denen - weil sie nationalkonservativ seien - die Union »keine politische Heimat mehr bietet«.

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15. September 2016: Zeitzeugenantwort - Einen der letzten Zeitzeugen, die über Auschwitz erzählen wollten und (noch) konnten, habe ich mit Student_innen 2009 gesehen und gehört. Er war derjenige, der (unter anderem) für Mengele die Fotografien der später mit medizinischen Versuchen ermordeten Zwillinge anfertigen musste: Wilhelm Brasse, Häftlingsnummer 3444. Als er die Geschichte einer Hochzeit in Auschwitz, die Erich Hackl unter diesem Titel in Romanform brachte, berichtete, brach er in Tränen aus. Lange war es still im Raum. Als eine junge Studentin Wilhelm Brasse fragte, wie er mit diesen Erlebnissen bis heute habe überleben können, blitzten Brasses Augen und fröhlich erklangen seine Worte: »Wissen Sie, junge Frau, weil es so schöne und kluge Frauen wie Sie gab und gibt; da ist die Hoffnung nicht verloren.«

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24. November 2016: Sucht & Abhängigkeit - »Ich trinke nicht, ich rauche nicht - darum gönne ich mir den FC Bayern«, erklärt ein Betriebsrat während einer Tagung und spricht über die Kosten, die er jährlich für eine Dauerkarte, für Busreisen, Auslandsflüge etc. von seinem Lohn in die Kassen eines Millionenunternehmens bezahlt. Ein anderer Betriebsrat einer Cateringfirma, welche eine bayerische Großstadtklinik mit Essen beliefert, berichtet, die Klinik habe aus Gründen der Kostenersparnis die Lagerhaltung von Essen aufgegeben. Sollten er und seine Kumpel streiken, müssten die Patient_innen im Krankenhaus hungern. Solche Verhältnisse - da hat der erste Kollege recht - können nur ertragen werden (Aufruhr und Rebellion scheinen nicht denkbar) mit Räuschen welcher Art auch immer.

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21. Juli 2017: Prozent oder Promille - Bürger »mit Migrationshintergrund« betrinken sich auf dem Schorndorfer Stadtfest. Die Schorndorfer und ihre Freund_innen tun das zwar auch, aber nicht in Gruppen. Die Polizei gibt eine Pressemeldung heraus, der zufolge 1000 Personen sich gegen die Verhaftung von einem von ihnen stellten. Vier Tage später gibt die Polizei ihre »Fehlinterpretation« zu und ändert die Zahl auf 100 Personen (FAZ). Wie betrunken müssen die Polizist_innen gewesen sein, wenn sie hundert migrationshintergründig aussehende Personen auf eintausend schätzten und ihre Ausnüchterung vier Tage dauerte?

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27. Oktober 2017: Hart gearbeitet - Rund um den Globus ist die Zahl der Milliardäre um zehn Prozent auf 1542 gestiegen. In Deutschland leben acht Prozent davon und nehmen in Europa damit »den Spitzenplatz« (FAZ) ein. Das Gesamtvermögen der »Reichsten der Reichen« liegt bei sechs Billionen Dollar. Die Frage ist nun, wie es sein kann, dass mann (Frauen befinden kaum unter den Superreichen) Self-made-Milliardär wird. Die Antwort weiß nicht der Wind, sondern der FAZ-Finanzredakteur. Die Superreichen haben ihren »Reichtum aus eigener Kraft erwirtschaftet«.

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Starke Gesten - In Frankreich haben es die so schwer arbeitenden Milliardäre (aber auch die Millionäre) leichter. Der von den deutschen Sozialdemokraten, Liberalen, Christdemokraten und Grünen umschwärmte Präsident Emmanuel Macron hat mit seiner Regierung die Vermögenssteuer abgeschafft, damit Frankreich »für Leistungsträger attraktiver « wird, wie die FAZ meldet (20.10.2017). Einigen Mitgliedern der Regierungspartei En Marche ist dabei ein bisschen »unwohl«. Sie fordern jetzt für die »sozial Schwachen« - ebenfalls mehr Geld? Nein, falsch gedacht: Sie fordern »mehr Gesten«.

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1. November 2017: Aus der Geschichte lernen - Die Deutsche Bahn macht nun Werbung für ihr Produkt mit Personen, »die allesamt neugierig auf die Welt« gewesen seien (FAZ), und will in diesem Sinne einen neuen ICE mit Anne Franks Namen »schmücken«. Anne Frank wurde mit der Bahn nach Auschwitz und von dort - mit der Bahn - nach Bergen-Belsen deportiert, wo sie umkam. Die FAZ ist etwas empört darüber, der »Nexus von Reichsbahn und Deportation in den Tod« dürfe für eine Werbekampagne nicht sinngebend sein. Allerdings entlarvt die Imagekampagne ungewollt die deutsche Wirklichkeit: Mit dem Anne-Frank-Express geht’s heute nach München zum Franz-Josef-Strauß-Flughafen und mit einem Ernst-Udet-Flieger der Lufthansa zurück - nach Afghanistan.

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3. November 2017: Wir suchen noch - Eine »kleine Anfrage« der LINKEN (Bundestagsdrucksache 19/37) zeigt, wie Polizei und Verfassungsschutz aus dem NSU-Skandal gelernt haben: Seit Jahren sucht die Polizei »intensiv« nach Neofaschisten und findet sie nicht. »Mit Stichtag 30. März 2017 lagen 596 Fahndungen vor«, auch gegen Neonazis, die Gewaltdelikte begangen hatten. Die Anfrage deckt auf, dass »nur ein geringer Teil der Neonazis, die wegen eines Gewaltdelikts gesucht werden, in der Gewalttäterdatei rechts erfasst« ist. Bei dieser Intensität an Aufklärungs- und Verfolgungswillen kann die Antwort auf die mehr als 25 Fragen an die Bundesregierung heute schon gegeben werden: »Der Verfassungsschutz und die Polizeibehörden unternehmen alles Erdenkliche, um Erfolge zu vermelden«. Fragt sich, was der deutsche Innenminister und seine Kollegen unter »Erfolg« verstehen.

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9. November 2017: Leidkultur - Eine 15-jährige Schülerin aus Dresden erhält einen »Preis für Zivilcourage« von der Jüdischen Gemeinde Berlin. In ihrer Klasse kursierten antisemitische Witze und Bilder im »Klassenchat«, so das Bild einer Rauchwolke mit der Bemerkung »jüdisches Familienfoto«. Sie ging zur Polizei und zeigte ihre Mitschüler wegen Volksverhetzung an, weil sie keine Unterstützung für ihre Kritik bekam; die Schule hat de facto nichts gegen die neofaschistischen Schüler unternommen. Die Verhältnisse in Dresden und Sachsen

lassen es nicht zu, dass der Familienname des Mädchens - trotz oder wegen der Preisverleihung - öffentlich genannt werden kann. Das Mädchen ist also froh, zum Schüleraustausch ins Ausland gehen zu können: »Einfach mal raus, mal für ein Jahr in ein anderes Land« (FAZ).

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