Die Ackerfurche

Zum 75. Geburtstag des Schauspielers Hermann Beyer

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt Menschen, die schleppen was weg. Kraftkerle. Wer was wegschleppt, will Ordnung, will freie Sicht - man soll einem Gelände das Chaos nicht mehr ansehen, nicht mehr all das, was im Wege lag. Wer was wegschleppt, der bereinigt. Hermann Beyer schleppt nichts fort und hinaus, er schleppt alles mit sich. Man sieht ihm ein Leben an; man sieht ihm an, was im Wege lag; man sieht ihm die Wege an und das, was sich nicht bereinigen lässt. Just daraus holt sich seine Schauspielkunst diese geheimnisvoll mitschwingende Trauer, diesen eingekerbten Ernst, diese unausgesprochen bleibende Bitte, sich nicht für die Grauwerte des Gemüts rechtfertigen zu müssen. Hermann Beyers Theater- und Filmmenschen waren und sind: trotzig, kantig, und sie lassen nicht davon ab, ihre Schwäche oder gar Ohnmacht wie einen redlich erarbeiteten Stolz vorzuführen. Er ist die Ackerfurche, die dem Römerkopf zeigt, was wahrhaftige Gesichtszüge sind.

Beyer legt Wert auf Färbung. Färbung, die sich abgrenzt, die auf Unterscheidung besteht. Dazu gehört auch dieser leise singende Tonfall des Thüringers aus Altenburg. Mag sein, dass sich dieser Schauspieler hauptsächlich als heimatlos empfand, ob im Osten oder im Westen, ob an der Berliner Volksbühne (1972 bis 1980) oder am Berliner Ensemble (1983 bis 1999), aber heimatlos in Kunstauffassungen vagabundierte er nie. Trotz des kreatürlichen Bedürfnisses nach Wirkung blieb dieser Darsteller stets ein Störrischer, ein plebejisch Autonomer.

Vielleicht läuft das meistens in Schichten des Unterbewusstseins ab, die man gar nicht beweiskräftig zur Diskussion stellen kann - aber in Beyers Auftreten kann man seit jeher eine persönlichkeitsstarke, ungelenke Distanz zu den Selbstverkaufstechniken der Branche entdecken. Da ist nichts mit flinkem Herumspringen - Charakter strahlt nicht, Charakter ächzt. Und bleibt auch mal stehen, wo andere in die Popularität rennen.

So hat Beyers Aura noch heute eine deutliche Spur aus anderer Zeit, anderem Tempo, anderer Lebensart. Er steht auf rührende, aufstörende Weise neben der schnurrenden Gegenwart. Selbst eine kleine Rolle wie der Vater des Kripo-Beamten Hinrichs (Uwe Steimle) im »Polizeiruf 110« - es ist lange vorbei - erzählte diese listige, verquere Bedächtigkeit, die sich gleichsam mit selbst gemachten Stullenpaketen versorgt und sich gegen den Modernismus einer allwaltenden Funktionalkultur wehrt.

Unvergesslich, bei all den zahlreichen DEFA- und TV-Rollen, bleibt der Hobby-Forscher Pötzsch im Film »Märkische Forschungen« (Regie: Roland Gräf): Ein schmächtiger, sanfter, aber herzbewegend beharrlicher Mensch, verteidigt die Wahrheit gegen das gültige Dogma der offiziellen Geschichtsschreibung; Beyer als eine wunderbare Feier des tapferen Provinziellen, ein nahezu lautloses, aber doch sehr gehörig Mut machendes Pendant zum gewieft-opportunistischen Staatsgelehrten, den Kurt Böwe grandios als massig, mies und mächtig zeichnete.

Der Bruder des Regisseurs Frank Beyer wurde 1943 geboren. Er besuchte die Schauspielschule in Berlin, begann an Maxim Gorki Theater und Hans-Otto-Theater Potsdam seine Laufbahn. An der Volksbühne wurden die Begegnungen mit Heiner Müller (»Macbeth«) und Regisseur Fritz Marquardt (»Die Bauern«) zu entscheidenden Markierungen. Beyers Spiel war so etwas wie eine Brücke zwischen der harten, schneidenden Poesie Müllers und jenem vertrackten Zauber des Naiven und Kreatürlichen und dunkel Absurden, den Marquardt so erdfarben und clownsschlau zu entfalten vermochte.

Seine weiteren Regisseure: Sagert, Gosch, Karge/Langhoff, Besson, Wekwerth, Zadek. Am Berliner Ensemble der DDR-Endzeit war Beyer als Tschu Jün neben Ekkehard Schall in Volker Brauns »Großem Frieden« zu sehen, beide Schauspieler gaben bereits 1977 ein packendes Duell im Berliner »bat«, Schall als Danton, Beyer in der Rolle des Robespierre. Da stand Stahlkante gegen Fleisch, gezirkelte Technik gegen zirkulierendes Blut - im Protagonismus dieser zwei sehr unterschiedlich Besessenen hätte das BE, wenn es nur intelligent gewesen wäre, eine Kraft zurückgewinnen können, wie sie einst, in frühen Jahren am Schiffbauerdamm, in der Spannung zwischen Schall und Hilmar Thate, gelebt hatte.

Nie hat Beyer hauptstädtische Dünkel gehabt, er hat in Meiningen gespielt, in Greifswald und nach 1990, im Deutschland seiner erweiterten Heimatlosigkeit (Müllers Tod als Abschied vom Kunstplan, der dem Leben beständigen Sinn gab), gastierte er in Chemnitz (»Lear«) und Schwerin (O’Neill und Tschechow). Er suchte, nutzte Gelegenheiten. Aber er fragte jede Inszenierung weiter stur: »Warum?« und meinte damit stets Größeres als die eigene Rolle. Sein Gestus sucht soziale Böden. Sein Ausdruck ist ironisch scharf, die Landkarte aller Bewegung besteht aus Gerbspuren.

Besagter Lear des Chemnitzer Schauspiels. Beyer, der Alte, so wundersam jung - man kann nicht früh genug wahnwitzig werden. Lear. Zunächst, in rot gefüttertem Pelz, ein Mann aus frechem, launischem, wetterwendischem Schwung; gewissermaßen der Bankchef, der sich heiter zurückzieht; der Geschäftsführer, der sich fröhlich aufgibt und den es nicht ankotzt, sich selber zu übergeben, dem Ruhestand nämlich. Beyer brachte eine merkwürdige, gefährlich lauernde und peitschende und genießerische Groblust ins Spiel. Ja, der Preis ist weis’: Nur der Wahn hat Sinn, weil einzig er offenbart, wie wir sind: Wir wissen nichts, ehe wir nicht dafür bezahlt haben. Und wessen wir bedürfen, das wissen wir erst, wenn wir die Beraubten sind. Wir müssen blind werden, um sehen zu können.

Im Fernsehen der letzten Jahre, in seinen Altersrollen, spielt Hermann Beyer die Väter, die Großväter, die Gütigen und Erfahrenen, auch die wohlweislich Misstrauischen, die begründet Verstockten, gestählt in Härtegraden der Zeit. Nichts Vertrotteltes, aber oft ein angestauter Zorn. Einsamkeit kann kämpfen; auch Vorsicht besitzt Geist und die Überlegenheit hat es nicht nötig, aufzutrumpfen. Eine der berührendsten Wahrnehmungen zu Hermann Beyer ist vom einstigen BE-Regisseur und Intendanten Stephan Suschke überliefert. Beyer habe als junger Schauspieler den genialen Komödianten Rolf Ludwig kennengelernt, »auf dem Klo, beim Pinkeln. Ludwig sagte: ›Du hast was in den Augen, aus dir kann was werden.‹ - ›Was habe ich denn in den Augen, Herr Ludwig?‹, fragte Beyer hoffnungsvoll. ›Angst. Du hast Angst in den Augen.‹«

Heute wird der sehr eigene, berückend knorrige Schauspieler Hermann Beyer 75 Jahre alt.

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