Mehrheit findet Besetzen richtig

Wohnungsnot radikalisiert Berliner Bevölkerung zunehmend

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.

53 Prozent der Berliner halten gesetzeswidrige Hausbesetzungen für ein legitimes Mittel, um auf Wohnungsnot aufmerksam zu machen. Das ergibt eine am Montag in der »Berliner Zeitung« veröffentlichte repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa. »Die öffentliche Meinung hat sich schneller verändert und radikalisiert, als wir geglaubt hätten«, sagt Rouzbeh Taheri von der Initiative Mietenvolksentscheid. Derzeit engagiert er sich in der Kampagne für den nächsten Volksentscheid. Das Thema: Immobilienkonzerne wie die Deutsche Wohnen zu enteignen. Der Zuspruch ist auch dort groß. »Anscheinend ist die Mehrheit der Bevölkerung offen für radikalere Maßnahmen angesichts der Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt«, sagt Taheri weiter.

»Die zeitweise Hausbesetzung werde laut Forsa von jüngeren Bürgern eher unterstützt als von älteren«, schreibt das Blatt. Weiterhin sprachen sich 43 Prozent der Bürger dafür aus, dass die Polizei zunächst die illegalen Hausbesetzungen dulden und dann mit den Besetzern verhandeln sollte. Vor allem Anhänger der LINKEN und der Grünen sprachen sich mit 83 beziehungsweise 77 Prozent für solche Aktionen aus. Und immerhin auch 49 Prozent der SPD-Anhänger.

»Man sieht daran, dass die Berliner manchmal progressiver sind als die Politik«, sagt Katrin Schmidberger, wohnungspolitische Sprecherin der Grünen-Abgeordnetenhausfraktion. Sie spielt damit auf die Haltung der SPD an.

»Der Rechtsbruch darf nicht sein«, erklärte die sozialdemokratische Wohnungsmarktexpertin Iris Spranger dazu vergangene Woche im Stadtentwicklungsausschuss. »Von der SPD-Fraktion ganz deutlich: ein Nein zur Hausbesetzung«, bekräftigte sie. Andererseits wurde beim Landesparteitag der SPD am vergangenen Wochenende ein Beschluss gefasst, in dem es heißt: »Die Kritik der Besetzer*innen an der aktuellen Situation auf dem Wohnungsmarkt teilen wir.« Zwar wird auf Legitimität und Legalität in dem offensichtlich entgegen dem Ursprungsentwurf entschärften Beschluss nicht eingegangen. Doch heißt es weiter: »Heute herrscht große Einigkeit, dass insbesondere West-Berlin ohne die Hausbesetzer*innenbewegung der 80er Jahre anders aussehen würde. Sich die Geschichte dieser Stadt anzusehen, kann auch bedeuten, nicht die gleichen Fehler zu wiederholen.«

Für die CDU ist das schon zu viel. »Erschütternd« nennt deren Wohnungsmarktexperte Christian Gräff, dass Hausbesetzungen von SPD-Parteitagsdelegierten gutgeheißen werden. »Ihr Lob für Hausbesetzer steht im krassen Widerspruch zu Bekenntnissen ihrer baupolitischen Sprecherin Spranger«, kritisiert Gräff. »Hausbesetzungen sind und bleiben ein Rechtsbruch«, so der Christdemokrat.

»Die Wohnungsnot ist so groß, dass die Bürger das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren«, konstatiert Grünen-Politikerin Schmidberger. Sie schlägt für den Umgang mit Besetzungen das Züricher Modell vor. Dort kann die Polizei nur räumen, wenn Abriss- oder Baugenehmigung vorliegen und unverzüglich mit den Arbeiten begonnen wird oder eine rechtmäßige Neunutzung der Liegenschaft unmittelbar nach der Räumung belegt werden kann. Außerdem können noch Sicherheitsbedenken oder ein gefährdeter Denkmalschutz eine Räumung rechtfertigen.

Die LINKEN-Stadtentwicklungsexpertin Katalin Gennburg fordert bereits seit geraumer Zeit eine neue »Berliner Linie« im Umgang mit Hausbesetzungen. Kommentar Seite 4

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