Grenzgänger an der Elbe

Vor 25 Jahren wechselten acht Orte von Mecklenburg nach Niedersachsen, aber eine Brücke fehlt. Gibt Schwerin Geld?

  • Iris Leithold, Amt Neuhaus
  • Lesedauer: 4 Min.

Grit Richter ist im vorpommerschen Pasewalk geboren, im mecklenburgischen Neubrandenburg aufgewachsen, nie in den Westen gezogen und sagt doch von sich: »Ich fühle mich als Niedersächsin.« Die 55-Jährige ist Bürgermeisterin des Amtes Neuhaus. Sie kam 1988, also noch in der DDR, in den Neuhäuser Streifen, der sich am Ostufer der Elbe zwischen Dömitz und Boizenburg im heutigen Mecklenburg-Vorpommern erstreckt.

Der wunderhübsche Flecken Land mit viel Natur an der früheren Staatsgrenze hatte bis 1945 jahrhundertelang zu Hannover gehört - und dort wollten die Dörfer nach der Wende wieder hin. Ein Staatsvertrag zwischen Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern besiegelte am 29. Juni 1993 den Wechsel der acht Gemeinden Dellien, Haar, Kaarßen, Neuhaus/Elbe, Stapel, Sückau, Sumte und Tripkau nach Niedersachsen. Und aus 6100 Ossis wurden am Tag darauf Wessis.

Es war der einzige Wechsel eines Gebietes aus der ehemaligen DDR in ein Bundesland der alten Bundesrepublik - ein Experiment, das Bürgermeisterin Richter heute als gelungen ansieht. »Die Gemeinde hat sich schön entwickelt, ohne Frage«, sagt sie und verweist auf neue Straßen, schmucke Sporthallen und Schulen sowie liebevoll restaurierte Kirchen. Viele Fördermittel seien in die Gemeinde geflossen, die 30 Kilometer lang und bis zu zehn Kilometer breit ist.

Und doch ist die deutsche Einheit für die heute noch 4750 Neuhäuser immer noch unvollendet. Was schmerzlich fehlt, ist eine Brücke vom Mutter-Bundesland über die Elbe nach Neuhaus. Es gibt zwei Fähren, doch die fahren weder nachts noch bei Nebel, Eisgang, Hoch- oder Niedrigwasser. Wollen Schüler, Arbeitnehmer oder Gewerbetreibende in so einem Fall ins nahe Neu Darchau gleich gegenüber von Neuhaus auf der anderen Elbseite, müssen sie über die nächstgelegenen Brücken in Lauenburg oder Dömitz fahren. »Das sind in diesem extremen Beispiel 60 Kilometer«, sagt Richter.

Entsprechend groß ist die Hartnäckigkeit, mit der die Neuhäuser und auch viele Menschen auf der Westseite des Flusses im Landkreis Lüneburg ihren Wunsch noch immer verfolgen. Die Brücke sei 1993 versprochen worden, sagen sie. Der Förderverein »Brücken bauen« will die Festveranstaltung zum 25. Jahrestag des Gebietswechsels am Samstag in Neuhaus nutzen, um auf das Anliegen aufmerksam zu machen. Mit Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) wird zu der Feierstunde prominenter Besuch aus Hannover erwartet. »Ohne Brücke ist auch irgendwie Mauer«, sagt Helga Dreyer vom Vorstand des Fördervereins.

Sie weiß viele in der Region hinter dem Vorhaben: In einem Bürgerentscheid 2013 sprach sich eine Mehrheit im Landkreis für den Brückenbau aus - wenn der Landkreis Lüneburg mit maximal zehn Millionen Euro belastet wird. Auch das Land sei zur Unterstützung bereit, doch bei geschätzten Gesamtkosten von 65 Millionen Euro gebe es noch immer ein Finanzloch von sechs Millionen Euro, sagt Dreyer. Dieses Loch könnte Mecklenburg-Vorpommern stopfen helfen, meint sie. Schließlich bekomme das östliche Nachbarbundesland seit 1995 und noch bis 2019 für die einst 6100 Neuhäuser Geld aus dem Solidarpakt - nach ihren Worten insgesamt rund 71 Millionen Euro. Denn die Zuweisungen an die Ostländer richten sich nach der Bevölkerung dort am 30. Juni 1991. Damals gehörte das Amt Neuhaus noch zu Mecklenburg-Vorpommern.

Aus einem Schreiben des Schweriner Finanzministers Mathias Brodkorb (SPD) an den Lüneburger Landrat Manfred Nahrstedt (SPD) vom Dezember 2017 geht hervor, dass Schwerin nichts davon nach Niedersachsen weiterleitete, um etwa teilungsbedingte Nachteile im Amt Neuhaus auszugleichen. In einem Rechtsgutachten leitet der Juraprofessor Bernd Hartmann daraus einen Anspruch des Landes Niedersachsen unter anderem gegen das Land Mecklenburg-Vorpommern ab - zumindest für die Jahre 2015 bis 2019. Alles Vorherige könnte demnach verjährt sein. Die Zahlungen aus dem Solidarpakt, die Mecklenburg-Vorpommern für die einst 6100 Einwohner des Amtes Neuhaus zwischen 2015 und 2019 bekam und noch bekommt, belaufen sich nach Berechnungen des Fördervereins »Brücken bauen« auf rund sechs Millionen Euro.

Das Land Mecklenburg-Vorpommern teilt die Auffassung allerdings nicht, dass dem Amt Neuhaus Geld aus den Solidarpaktmitteln für den Nordosten zustehe. »In dem 1993 geschlossenen Staatsvertrag zwischen den beiden Bundesländern sind auch alle finanziellen Fragen geklärt worden«, sagt der Sprecher des Finanzministeriums in Schwerin, Stefan Bruhn. »Unseres Wissens gab es nie Bestrebungen, diesen Staatsvertrag zu ändern oder nachzuverhandeln.« Bernd Hartmann vertritt in seinem Rechtsgutachten hingegen die Auffassung, dass in dem Vertrag nur die Finanzströme für das Jahr 1993 geregelt wurden. Und Helga Dreyer fragt schlicht: »Wo bleibt die Moral?« dpa/nd

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