O du kitschige

Als Massenware ist der Weihnachtsmann Kitsch – wie so vieles andere. Zehn Betrachtungen

  • nd-redaktion
  • Lesedauer: 15 Min.
Kitsch – O du kitschige

Gebogen verkitschte Geschichte

Je undurchsichtiger und krisenhafter die Verhältnisse werden, desto mehr braucht es wohl die Zeiten der Besinnlichkeit und inneren Einkehr. Kuschelig eingemummelt im eingeschneiten Haus soll es drinnen licht werden, und die Dunkelheit muss draußen bleiben. Kaum ein Weihnachtsschmuck kann dies so eindringlich herbeizaubern wie der Schwibbogen!

Der kerzenbesetzte Holzhalbbogen mit ausgefrästem Gebirgsidyll steht im Fenster und sendet ein klares Signal nach außen: Hier ist es heimelig, hier ist alles gut, weil beständig und mit Tradition, hier ist Familie, Wärme, hier ist eine »schöne heile Welt«. Nun kann man sich darüber streiten, ob das berühmte erzgebirgische Kulturgut als Kitsch zu zählen ist. Da ist nichts niedlich überzeichnet, nichts süß verspielt. Im Gegenteil, er ist klar und schlicht, die heile Welt, die er zeigt, ist im wahrsten Sinne des Wortes holzschnittartig.

Kitschig ist der Lichterschmuck daher eher der Funktion nach: Wie es die Lautmalerei des Begriffs Kitsch verrät, hat er etwas Matschiges, Klebriges, das die Wirklichkeit zu einem unklaren Brei verwischt. Dieser wird dann beliebig formbar beziehungsweise kann mit Symbolik und Bedeutung aufgeladen werden. So macht der Schwibbogen aus einer widersprüchlichen Realität, die besonders im Erzgebirge von rechten, antifeministischen, religiös-fundamentalistischen Ideologien durchzogen ist, eine heile Welt.

Schauen wir genau hin, so besteht diese Welt im klassischen Schwibbogen aus den Männern, die im Bergbau arbeiten, und Frauen, die daheim vor sich hin klöppeln. Dieser idyllische Originalentwurf stammt aus einem Wettbewerb des nationalsozialistischen Heimatvereins von 1937. Dass diese gewaltvolle Zurichtung der Geschlechterverhältnisse und die tiefe Verankerung in der NS-Geschichte derart warme Gefühle erzeugen können, ist nur durch Verkitschung möglich. Jenseits dessen ist es ein Symbol des absoluten Horrors unserer Gegenwart – beziehungsweise der Verdrängung dessen. Alex Struwe

Gerahmtes Röhren

Ausgerechnet ein Laut hat es zeitweilig zum beliebtesten Motiv in der Malerei gebracht und prangte bis in die 50er Jahre in unzähligen Kleinbürgerhaushalten über der Wohnzimmercouch. Schon damals günstig zu haben, gilt er längst nur noch als Kitsch: der »Röhrende Hirsch«. Im Profil vor Waldlandschaft abgebildet, den Kopf mit dem voll ausgebildeten Geweih in den Nacken gelegt, einen Dampfhauch vor dem geöffneten Maul – so kennt man ihn.

Und anders eben auch nicht. Hartnäckig hält sich seit »Bambi« das Gerücht, das Rehlein sei der Nachwuchs vom Hirsch. Kaum jemand bekommt das beeindruckende Tier im offenen Gelände zu sehen, denn der Mensch hat es mit seinen »Kulturlandschaften« und der Trophäenjagd tief in den Wald gedrängt. Dort nagt es nun zum Ärger von Waldbesitzern an den Bäumen. Der Hirsch röhrt auch nur wenige Wochen im Jahr. Dagegen finden die erbärmlichen Nachahmungsversuche meist männlicher angetrunkener Menschen selbst in urbanen Gebieten flächendeckend Verbreitung.

Überhaupt: Mann und Hirsch. Von einer »gendergerechten Verehrung« der Tiere könne keine Rede sein, schreibt Wilhelm Bode in seinem Hirsch-Porträt. Es ist jene zeitweilige testosteronstrotzende Männlichkeit des Hirschbocks, sein sekundäres Geschlechtsmerkmal an so exponierter Stelle, das Gepose im Kampf um die weiblichen Tiere sowie die Fähigkeit zu ausdauerndem, promiskuitiven Geschlechtsverkehr, die Jäger wie Maler sichtlich beeindruckt hat. Was es mit Ersteren macht, diese Geschöpfe zu jagen und zu töten und ihre Geweihe an die Wand zu nageln, mögen Psychologinnen beantworten.

Ein stummer Hirsch nach Abwurf des Geweihs gibt jedenfalls kein populäres Bildmotiv her. Die Schnelligkeit und Intelligenz der Tiere sind kein Thema, und erst recht nicht ihre beneidenswerten Hauptbeschäftigungen: äsen, verdauen, wiederkäuen, dösen. Regina Stötzel

In der Dekohölle

Es quillt aus Geschäften, Kaufhäusern, Supermärkten und Onlineshops. Die Deko-Welle mit Weihnachtsschmuck beginnt nicht erst im Advent. Das Unternehmen Käthe Wohlfahrt hat den Weg seit Anfang der 60er Jahre gebahnt: Diese Deko musste ganzjährig verfügbar sein, zunächst für US-Besatzungssoldaten. Inzwischen ist sie das auch, mit etlichen Filialen in Deutschland, in einigen Ländern Europas sowie in den USA, jedenfalls aus dem Wohlfahrt-Imperium.

Die Produkte kommen nicht mehr nur aus dem Erzgebirge, sondern lange schon aus chinesischen Fabriken. Aber auch das sächsische Mittelgebirge selbst ist längst überschwemmt mit Konkurrenz-Engeln, -Nussknackern, -Schwibbögen, -Pyramiden, -Spieluhren, -Baumschmuck etc. pp. Ein geringer Teil ist noch originär, sparsam im Design – und vielleicht kein Kitsch. Der deutlich größere nur ein Abklatsch. Es scheint eine Regel zu geben: Je mehr Deko, umso größer ist die Kitschgefahr. Und nicht erst seit gestern ist Kitsch sogar erwünscht, auch Weihnachten, und läuft als Merchandising-Schlagwort sogar positiv.

Summa summarum macht auch dieser Kitsch am Ende Verdruss, ganz zu schweigen von Musik, Lebensmitteln, Beleuchtung, Kleidung (Weihnachtspullover!) und weiteren Dingen im Zeichen der heiligen Nacht. Sentimental ist gar kein Ausdruck. Die Deko in Vorgärten, auf Fensterbrettern und Balkonen oder sonst im öffentlichen Raum funktioniert allerdings nur mit Schnee – ohne solchen hat das Ganze nicht mal Las-Vegas-Niveau. Spätestens Mitte Januar ist das meiste im Müll gelandet, der Rest aufgegessen und der geringste Teil wieder weggepackt.

Gibt es ein Entkommen? Antizyklisch konsumieren oder lieber gleich gar nicht? Oder als Strategie zur Vermeidung noch größerer Streitereien: Einfach mal diskutieren, was für wen Kitsch ist und warum. Schon die Geschichte der Kitschdefinitionen gibt einiges her. Bis bald also, beim Geisterfahren auf der Weihnachtsautobahn. Ulrike Henning

Kitschpartei: »Ü« statt »Ö«

»Lebe glücklich, lebe heiter, wie der Spatz am Blitzableiter!« Was man früher ins Poesiealbum schrieb, verkauften die Grünen als ihre politische Vision. Die Apokalypse wird behaglich bekämpft durch folgenlosen Moralismus. Der Klassiker ist ihr Plakat von 1979: »Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt«, gemalt in Wasserfarben wie in der Grundschule. Von rechts oben scheint die liebe Sonne. Oder die lieben Sonnenblumen, die auf einem Plakat 1980 einen Atommeiler zuwuchern: »Atomkraft ist nicht sicher. Nutzen wir die Naturkräfte!« Damals fragten sie in ihrem TV-Wahlspot: »Überlegen Sie mal, wann haben Sie das letzte Mal in einem sauberen Fluss gebadet?«

Wie in der Waschmittelwerbung von Ariel wollten die Grünen »nicht nur sauber, sondern rein« sein. Zumindest politisch – ästhetisch wirkten sie anfangs langhaarig, wollpullover-fusselig und so unvorteilhaft wie das rumpelnde Liedchen »Sonne statt Reagan«, das Joseph Beuys 1982 als Amateursänger im Auftrag der Grünen gegen die Nachrüstung zum Besten gab. Solange die anderen Parteien sie hassten, konnten sie vorhersehbar in Kritzelschrift fordern: »Farbe bekennen – die Grünen«.

Seit 1994 lassen sie ihre Plakate und Kampagnen von Profi-Agenturen entwickeln, vorher machten das befreundete Grafikbüros. Eine der blödesten Ideen der Profis war 1998 die Betonung des Buchstaben »Ü« im Parteinamen als Markenzeichen: eine Kopie von »Ö«, wie Herbert Grönemeyer zehn Jahre zuvor sein überaus erfolgreiches Album genannt hatte. Äh, »Ü« oder »Ö«? Lustig ist beides nicht. »Ein Mensch, ein Wort« – so bedeutungsschwer inhaltslos hieß das zuletzt bei Robert Habeck.

Originell war einzig Joschka Fischer, weil dieser Egomane seine manipulativen Fähigkeiten durch Selbstironie noch steigern konnte, während die Trittins, Özdemirs und Peters' verkrampft wirkten. Fischer hockte in der Wahlwerbung 2005 als amtierender Außenminister vor einer Wiese und sagte: »Die Grünen sind an allem schuld, ich hör das immer wieder, die Mopsfledermaus, der Feldhamster werden uns noch dazugesellt.«

Nur er konnte Coolness und Betroffenheit gnadenlos zum Überkitsch verschmelzen, als er 1999 für die vermeintliche Friedenspartei den ersten deutschen Kriegseinsatz nach 1945 rechtfertigte. Ohne Völkerrecht, aber mit der Nato gegen Jugoslawien unter dem goldenen Fischer-Motto »Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz«. Der Krieg wurde real begonnen, ein drohendes neues Auschwitz im Kosovo war frei erfunden. Mit diesem Doppelsprechkitsch wurden die Grünen Kriegspartei – und sind es geblieben. Christof Meueler

Traumreise oder vom Nutzen des Kitschs

Wenn ich bei ihr zu Besuch war, ging meine Oma gerne mit mir in die Kunsthalle. Sie schwärmte für Monet, malte hin und wieder selbst impressionistische Bilder ab. Außerdem liebte sie Mädchen in Kleidern, Engelsfiguren, Venedig und die Alpen. Einmal vertäfelten sie und mein Opa in Erinnerung an ihren jährlichen Wanderurlaub ihre kleine Hamburger Küche mit Holz, sodass sie wie eine österreichische Stube wirkte. Das war noch relativ dezent, aber es fehlte nicht mehr viel zum Kitsch.

itsch wird häufig in Verbindung mit dem Massenkonsum der unteren Klassen und des Kleinbürgertums gebracht und steht dafür in der Kritik, oberflächlich und letztlich überflüssig zu sein. Nur ironisch gerahmt findet er Eingang in den guten Geschmack. Doch hat der Kitsch auch einen Nutzen: Häufig genug dient sein Konsum dazu, die Schwierigkeiten des Lebens abzumildern oder zu umschiffen. Auch meine Oma konnte, von den Bergen träumend, wohl besser mit einer Realität fertig werden, die nicht immer einfach war: belastende Kriegserinnerungen, familiäre Konflikte, beengte Wohnverhältnisse.

Mit Kitsch geht es durchaus gefühlig zu, von großen Gefühlen ergriffen wird man jedoch nicht. Zudem bietet Kitsch, im Gegensatz zu anderen künstlerischen Ausdrucksformen, keine Spannungen und Widerstände. Auch Walter Benjamin meinte einmal, Kitsch sei die »abgegriffenste Stelle« der Dinge, die Seite, die »von Gewöhnung abgescheuert« ist. Das macht ihn zu so einer leichtfüßigen Angelegenheit, aber auch zum geeigneten Manipulationsmittel.

Dabei hat Kitsch nicht notwendigerweise einen positiven Inhalt. Auch düstere Themen finden ihren Ausdruck darin: der Klimawandel in schaurigen Untergangsfantasien, Krieg in Heldengeschichten, Armut im Sozialkitsch. Selbst an den Tiefpunkten unserer Gegenwart schafft Kitsch noch die Entlastung. Oder, in den Worten des Romanautors Milan Kundera: »Kitsch ist die absolute Negation der Scheiße.« Maria Neuhauss

Ohne Kitsch keine Kunst

Der Vorwurf ist altbekannt: Kunst ist das, was passiert, wenn sich der Kunsthandwerker – nicht der ehrenwerte Künstler – an ein großes Thema – Gott! Liebe! Tod! – herangewagt und wohl leider dabei etwas verhoben hat. Aber man könnte mit gleichem Recht behaupten: Den Vorwurf des Kitsches erheben leichtfertig diejenigen, die sich weitere Argumente sparen wollen.

»Was ist Kitsch?«, hat unverblümt Alexander Kluge einmal den Theaterberserker Einar Schleef gefragt. Der hat, vielleicht auch etwas kokett, eingeräumt: »Ein Großteil meiner Arbeit ist Kitsch.« Kluge ließ nicht locker: »Was bezeichnet man als Kitsch?« Daraufhin Schleef: »Es nicht angemessen formulieren zu können« – und schließlich: »Es ist quasi Gedankenschwäche.«

Nun stehen Schleefs Arbeiten nicht gerade für Gedankenschwäche, ganz im Gegenteil. Aber da das Konzert, das Schauspiel, die Ausstellung, der Roman sind, was sie sind, und eben keine Oberseminare, die frei von Sinn und Sinnlichkeit bestehen müssen, liegen in der Kunst das Hohe und das Tiefe oft erstaunlich nah beieinander.

Genau genommen: Die Radioweihnachtsdudelei »Last Christmas« ist ebenso Kitsch wie die eine oder andere Passage beim großen Richard Wagner, wie einige missglückte Verse von Rilke oder wie viele goldverliebte Malereien aus dem Fin de Siècle. Ob man sich mit dem Schmähwort »Kitsch!« auf den Lippen eher von dem oder von anderen angewidert abwendet, ist vor allem eine Frage des Milieus, der Abgrenzung und des eigenen Status.

Wenn das Jahr sich dem Ende zuneigt, ist vielleicht die beste Zeit für Zurückhaltung und Nachsicht – auch mit den Dingen, die uns unzugänglich bleiben. Kunst und Kitsch gehören, auch wenn die Erkenntnis Bauchschmerzen verursacht, auf gewisse Weise zusammen. Erik Zielke

Trainingslager der Hoffnung

Warum brauchen wir überhaupt Filme und Geschichten? Bei Kindern kann man das am besten beobachten. Sieht ein Kind fern, ist es wie weggebeamt, gar nicht mehr ansprechbar, paralysiert. Natürlich kann man behaupten, es ist von den ständigen Bilderwechseln überreizt, das kleine Gehirn weiß gar nicht mehr, was es zuerst tun soll, glotzen oder atmen. Aber es ist Weihnachtszeit, und da darf man auch naiv annehmen, Filme sind dafür da, uns an die Hand zu nehmen und woanders hinzubringen, wo es schöner, gemütlicher, spannender, verwegener ist.

Beim Weihnachtsfilm wiederum ist es offenbar genau so nicht. Er bringt uns dahin, wo wir nicht hinwollen: anstrengende Familie, Kaufhäuser voller unnützer Dinge, alte Lieben, denen man auf Heimatbesuch abends in der Dorfkneipe begegnet. Das alles klingt grausam, dennoch lohnt es sich auch aus linker Perspektive, dem kitschigsten aller Filmgenres eine Chance zu geben: dem Weihnachtsfilm. Denn im Weihnachtsfilm wird linke Utopie wahr – oder zumindest werden die herrschenden Zustände sanft und flauschig kritisiert: Die von der Gesellschaft Ausgestoßenen entpuppen sich als liebenswürdige Menschen, wenn man seine Vorurteile vergisst (»Kevin Allein zu Haus«: Der scheinbar gruselige Nachbar erweist sich als liebenswürdiger Opa, der seine Familie vermisst); Konsum ist weniger wert als die Gemeinschaft (»Nightmare before Christmas«, »Versprochen ist versprochen«); der Psychiatriegedanke wird hinterfragt (»Das Wunder von Manhattan«: Der echte Weihnachtsmann wird von der Mehrheitsgesellschaft für wahnsinnig gehalten und kommt in die Klapse). Oder, ganz simpel: Gemeinschaft, Solidarität und Liebe sind das Allerwichtigste (jeder Film).

Für einen Moment also wird man entführt in eine Welt, in der das gilt, wofür man jeden Tag streitet, schreibt, diskutiert. Passend zum Thema Kitsch: Weihnachtsfilme sind unser Trainingslager der Hoffnung. Christin Odoj

Wenn Augen leuchten für die gute Sache

Es war eine machtvolle Demonstration auf dem Neuköllner Hermannplatz. Unsere Fahnen, die den unerschütterlichen Widerstand eines unterdrückten Volkes symbolisierten, wehten stolz im klaren, milden Abendlicht des anbrechenden Winters. Gemeinsam waren wir stark, gemeinsam protestierten wir gegen Völkermord und Kolonialismus.

Ich blickte mich nach allen Seiten um, und von überall strahlten mich die still-frohen und ernst-beschaulichen Gesichter meiner Genossinnen und Genossen an. Der warme Glanz in ihren leuchtenden Augen stimmte mich zuversichtlich. Ja, das hier waren meine Brüder und Schwestern im Geiste, die an anderen Tagen feiern, lieben, leiden und lachen und Tränen vergießen mochten. Doch heute, am Tag unseres großen Protestmarsches, bewiesen sie, dass sie auch glauben und hoffen und für die gerechte Sache kämpfen konnten. Und als unsere Körper sich zu ihrer ganzen Höhe strafften und aus allen Kehlen der kollektive Ruf »From the River to the Sea« erschallte, während mein Blick über all die kraftstrotzenden, tapfer in die Höhe gereckten geballten Fäuste wanderte, machte mein Herz einen kleinen Hüpfer. Und meine Brust dehnte sich, von einem Gefühl freudigen Stolzes geschwellt. Das Erleben war stärker, als dürre Worte es zu sagen vermögen.

Immer weiter schritten wir hinein in die breite Sonnenallee, während unsere Parolen erklangen, von denen wir so ergriffen waren, dass es wie Rausch aufstieg in unseren Herzen. »Yalla, yalla, Intifada!« Eine wundersame, erregende Süße durchflutete unsere Körper. Wir schienen zu wachsen mit jedem Schritt. Weit hinter uns schmetterte ein feindliches Martinshorn sein Gejaule ins frühabendliche Blau des Himmels. Aber wir spürten: Wir gehen nicht allein über die Sonnenallee. Viele sind mit uns, neben uns, bei uns, die vor uns, im ganzen 20. Jahrhundert, hier gingen, kämpften, demonstrierten, unserer erhabenen Sache dienend. Und der Berliner Winterwind umtoste uns dabei, als wolle er uns alle mitsamt unseres imposanten Fahnenmeeres emporheben in die Lüfte und uns so mitteilen: »Lasst den Mut nicht sinken!« Da wusste ich: Unsere starke Solidarität wird meine Freunde eines Tages heimführen ins Land ihrer Väter und Ahnen. Thomas Blum

Quarkbällchen im Wunderland

Ich bin vor Kurzem umgezogen. Nicht weit weg eigentlich, aber die Gegend ist ganz anders, so wie das in Berlin eben ist. Nun lebe ich zwischen der A100, dem BKA und Siemens, aber auch der Treptower Park ist in Laufnähe. Will ich fußläufig ins Grüne oder zur dazugehörigen S-Bahn-Station, nehme ich einen vorläufig eingerichteten Trampelpfad mit der – erstaunlich wirksamen – Schallschutzwand der Autobahn zur Rechten und dem großteils leer stehenden Parkhaus des großteils entmieteten Treptower-Park-Centers zur Linken, um dann auf den Dauerstau zu stoßen, der sich seit der Eröffnung des 17. Bauabschnittes von der Autobahnabfahrt über die Elsenbrücke bis nach Friedrichshain erstreckt. Nichts von all dem ist kitschig, auch nicht das Gartencenter Der Holländer in seinem grauen, lagerhallenartigen Gebäude, das ebenfalls auf meinem Weg liegt. Aber der äußere Eindruck täuscht! Momentan verbirgt sich darin etwas ganz und gar Zauberhaftes: das »Winter Wunderland«.

Ich erfuhr von der Existenz des »Wunderlandes« durch eine Freundin, die ihre Familie auf Berlin-Besuch dorthin ausgeführt hatte. Sofort beschloss ich, mit meiner Mutter hinzugehen, die kurz darauf ebenfalls zu Besuch kam. Betört wanderten wir durch die Gänge voller glitzernder Kugeln und Figuren, LED-Ornamente jeglicher Art, echter und unechter Weihnachtsbäume, vorbei an einer riesigen Weihnachtslandschafts-Spielzeugeisenbahn, bis zum Schmalzgebäck-Stand, wo wir jeweils zwei Quarkbällchen aßen.

Draußen herrschten um die 10 Grad, aber das tat im »Wunderland« nichts zur Sache. Denn: »Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. … Das Träumen hat an der Geschichte teil.« So schrieb es Walter Benjamin 1925 in »Traumkitsch«, einer Glosse für die »Rheinische Zeitung«. Er fällt kein elitäres Urteil, sondern beschreibt den Wahrheitsgehalt des Kitsches – als ästhetischer Ausdruck einer Zeit des Erfahrungsverlustes und der kapitalistischen Massenproduktion. So betrachtet, befinden sich Wunderland und städtebauliches Wasteland in totaler Harmonie – und welches Gefühl könnte weihnachtlicher sein? Tanja Röckemann

Kicz: friedliche Welteroberung

Dass Deutschland Exportweltmeister ist, zumindest gefühlt, hat nicht nur mit Schrauben, Motoren und Turbinen zu tun. Die Deutschen haben der Welt auch allerhand schöne Wörter geschenkt, und eins davon ist Kitsch. Seit es irgendwann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftauchte, hat Kiç (albanisch) es sich in allen möglichen Sprachen gemütlich gemacht.

Woher Kičs (lettisch) kam, weiß niemand ganz genau. Manche Quellen meinen, Kiĉo (Esperanto) stamme vom englischen Sketch ab; englischsprachige Käufer hätten seinerzeit auf dem Münchner Kunstmarkt etwas Billiges gesucht und nach einer Skizze (Sketch) gefragt. Andere behaupten, Kicz (polnisch) sei vom mundartlichen Wort kitschen (Straßendreck zusammenscharren) abgeleitet. Wie auch immer – Kitshi (Maori) wird definiert als Schund, geschmackloses Erzeugnis, trivial, häufig verbunden mit unzulänglichem künstlerischen Können. Kits (indonesisch) erscheine – so ein Lexikon – »als erbaulich-unkritisches Surrogat echter Empfindungen und wirklicher Konflikte«. Dabei will Kicc (ungarisch) »höhere Werte nur vortäuschen«, teilt ein weiteres Nachschlagewerk mit.
Deutschland hat zu dieser »sentimentalen Scheinkunst« namens Kitsi (koreanisch) bedeutende Beiträge in Wort, Bild und Noten geleistet. Wobei Gýč (slowakisch), wenn er nur ambitioniert genug vorgetragen wird und seine Verächtlichmacher verachtet, durchaus etwas Interessantes haben kann. »Im Reich des Kitsches herrscht die Diktatur des Herzens«, schrieb der Schriftsteller Milan Kundera, und das ist fast schon wieder kýčovitý (kitschig – tschechisch).

Jedenfalls ist Kičas (litauisch) hinausgegangen und hat die Welt erobert. Ganz friedlich. Wir hatten Diplomaten wie Genscher, Fischer (Oskar und Josef), Kinkel, Steinmeier und Baerbock, aber Kitsch (baskisch, englisch, bengalisch, dänisch, russisch, finnisch, französisch, Khmer, türkisch, schwedisch, Hindi, japanisch, hebräisch, Afrikaans, italienisch, walisisch …) ist vielleicht der berühmteste Botschafter Deutschlands. Wolfgang Hübner

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