Wildes Berlin! Verrücktes Berlin! Gefährliches Berlin!

Der Dokumentarfilm »Symphony of Now« will eine Hommage an Berlin sein, ist aber tatsächlich Stadtmarketing

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 3 Min.

Akt 1: Wir sehen Bilder, hintereinanderweg. Die Reste der Berliner Mauer, die Überbleibsel des Anhalter Bahnhofs, der Fernsehturm am Alexanderplatz, Einschusslöcher des Zweiten Weltkriegs in wilhelminischen Hausfassaden, ins Straßenpflaster eingelassene und an Opfer des Holocaust erinnernde »Stolpersteine«, den »Allianz«-Tower am Treptower Park, das verrostete Riesenrad im Plänterwald, der Schöneberger Südgelände-Park, der jüdische Friedhof in Weißensee, ein ausgebranntes Auto, ein neues Auto, Kiffer im Görlitzer Park, Geschäftsleute im Anzug, türkische Muttis mit Kopftuch, Künstler, Sprayer, Hipster, Obdachlose, Bolle-Berliner, Flaschensammler, die »revolutionäre« 1.-Mai-Demonstration, die aufgehübschten Jahrhundertwendehäuser im komplett erfolgreich durchgentrifizierten Kreuzberg.

»Symphony of Now« heißt dieser Film. Wir blicken auf eine Inszenierung der Stadt, eine Inszenierung wohlgemerkt, die Behauptungen aufstellt: Berlin ist urban, weltoffen, historisch bedeutend, tolerant, geschichtsbewusst, aufregend, lässig, entspannt, modern. Berlins Bevölkerung ist vielfältig, multikulti, im Dauerpartymodus, immer am Puls der Zeit, immer geschäftig, immer ist was los. »Irgendwas ist immer« (Christiane Rösinger).

Beim Betrachten dieser kaum kaschierten Berlinreklame fallen einem sofort all jene echten oder potenziellen Claims ein, mit denen Werber Stadtmarketing betreiben: »Eine Stadt in Bewegung«, »Be Berlin«, »Alles kann, nichts muss«, »Berlin tut gut«, »Coolsein kann man nicht lernen«, »Arm, aber sexy«, »Eine Stadt für alle«. Hier wird also der Mythos Berlin neu bebildert, und zwar mit den alten Bildern.

Akt 2: die untergehende Abendsonne im Park, das Feier-, Party- und Boheme-Berlin legt los, Fresskultur, Genusskultur, Hochkultur, Pop, Theater, Oper, Kino. Säle, Keller und Bars, die sich füllen. Zuschauerplätze, die eingenommen werden.

Ja, ein Berlingedicht in Bildern will dieser Film sein, mindestens. So wie sein großes Vorbild, Walter Ruttmanns Dokumentarfilm »Berlin - Die Sinfonie der Großstadt« (1927), der hier beständig zitiert wird. Ruttmanns experimentelles Werk, das glatte Bilder des Stadtlebens aneinandermontiert, verstand sich als eine Hommage an die moderne Großstadt, vom »Fluss des Lebens« (Siegfried Kracauer) inspiriert.

Akt 3: Nächtliches Publikum strömt durch die Straßen, Leuchtreklamen strahlen, voll besetzte Bars und Restaurants. Köche, Bäcker, Imbissbudenpersonal bei der Arbeit. Theater- und Tanztheaterszenen auf Bühnen, glamouröse Berlinalebilder, breitbeinige Gitarristen im Konzert, tanzende Pärchen in Clärchens Ballhaus. Wie sich der Mann von der Sparkasse halt eben so das Berliner Nachtleben vorstellt. Spätverkaufsläden und ihre Kundschaft, Currywurst mit Champagner, Leute an Spielautomaten, Mischpultmixer und Brückensitzer.

Akt 4: Berghain, 1.-Mai-Krawalle, Bullenwannen, nächtliche Tänzer in verrufenen Clubs, Stroboskoplicht, feiernde Meuten. Wildes Berlin! Verrücktes Berlin! Gefährliches Berlin! Licht an, Licht aus. Putzfrauen, Nachtapotheke, BVG-Gleisarbeiter, Plakatkleber, Wachschützer, Warschauer Brücke, Taxifahrer, Graffitiszene, Schließzeit, Sperrstunde, Aufstuhlen. Akt 5: die ersten U-Bahnen der Morgendämmerung, verwaiste Straßen, leere Waggons, Bäcker in Backstuben, Afterhour im Park.

Das alles so zusammenzuschneiden und die zahlreichen kurzen Einzelszenen in einer Art dramaturgisch sinnvoller Reihenfolge zu organisieren und mit der passenden halbunaufdringlichen und halbdynamischen Bummbumm- und Tschufftschufftschufftuut-Clubmusik zu unterlegen, mag eine ungeheure Kompilations- und Fitzelarbeit gewesen sein, die Respekt verdient. Und doch bleibt dieser Film, weit mehr noch als sein Vorgänger aus der Weimarer Zeit, reine Oberfläche, eine Mischung aus (gewollter) Pop-Art und (dabei entstandener) reiner Stadtreklame bzw. »ein filmischer Liebesbrief an die Hauptstadt«, wie es die Marketingabteilung eines deutschen Automobilkonzerns formuliert. Berlinmythisierung, Berlinglorifizierung, Berlinmarketing. »Die Audi City Berlin hat diesen Film mitermöglicht und präsentierte ihn ihm Rahmen des Audi Zeitgeist Projects.« (»Berliner Zeitung«) Na, dann.

»Symphony of Now«, Deutschland 2018. Regie: Johannes Schaff. 65 Min.

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