Angriff auf die Insel

Vor hundert Jahren wurde der Film- und Theaterregisseur Ingmar Bergman geboren

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 5 Min.

In den 1950er Jahren kam an Ingmar Bergman niemand vorbei. Heute, an seinem hundertsten Geburtstag, scheint er der altmodischste Regisseur der Welt zu sein, altmodischer als sein Lehrer Victor Sjöström, altmodischer als Charlie Chaplin. Den Grund für diese Umwertung zeigt, unfreiwillig, Margarethe von Trotta in ihrem neuesten Film auf. Von Trottas Dokumentation »Auf der Suche nach Ingmar Bergman« beginnt mit den ersten Bildern des allerersten Films, den sie von dem schwedischen Meister sah, »Das siebente Siegel« (1957). Zu sehen sind: ein dräuender Himmel über dem Meer, ein schwarzer, wie ausgestochen wirkender Vogel, ein Ritter und sein Knappe sowie der leibhaftige Tod. Wir begreifen spätestens, wenn der Tod weiß geschminkt auftritt: Diese Bilder sind keine Naturaufnahmen, sondern weltanschauliche Metaphern. Gerade das ist heute lächerlich geworden: ein Himmel, der für die aufgewühlte menschliche Existenz steht, ein Vogel, der als Vorbote des Todes über den Köpfen kreist, und Freund Hein selbst.

Es können heute keine Filme mehr gedreht werden, in denen ein Mensch mit seinem Tod Schach spielt. Dabei ist die Vorstellung von einem Gespräch mit dem Tod uralt. Aber es werden auch keine existenzialistische Philosophie und keine pathetischen Gedichte mehr geschrieben. Alle Fragen nach dem Ganzen, nach dem Sinn, nach dem Ende sind beantwortet worden, indem sie nicht mehr gestellt werden. So wirkt heute vieles, was Bergman gestaltet hat, trotz seiner enormen Virtuosität (und der seines Kameramanns, Sven Nykvist), aufgebauscht. Das sei mit Bedauern gesagt, denn »Licht im Winter« (1963) ist ein bewegender Film.

Die großen Fragen sind allerdings von Bergman grob verallgemeinert worden. Es beginnt damit, dass sie sich nur den Rittern, nie den Knappen stellen. Leidet ein Hoteldiener nicht unter einer anderen Entfremdung als die Übersetzerin in »Das Schweigen« (1962)? Nicht dass er die Anfechtungen seiner Klasse ausbreitet - ihrer selbstmitleidigen Patriarchen, ihrer unterdrückten Mütter, ihrer maßlos ehrgeizigen Söhne und ihrer verträumten Töchter -, stört an Bergmans Filmen, sondern dass er diese Klasse als allgemeingültig hinstellt. Es ist, als ob das Bürgertum, das er schonungslos porträtiert, schon immer so bestanden hätte und auf ewig so bestehen müsste. Es ist, als ob nur seine Mitglieder zum Leiden und zum Fragen fähig wären.

Ein Beispiel dafür ist ein Film, der in von Trottas Dokumentation lobend erwähnt wird: »Das Leben der Marionetten« (1980). Über 100 Minuten lang wird der Zwangscharakter des bürgerlichen Mörders (Robert Atzorn) mit hohem stilistischen Aufwand und sicherlich korrekt aus seinem »Milieu« hergeleitet, aber für die Geschichte der kleinen Prostituierten (Rita Russek), die er erwürgt, bleibt keine Minute übrig. Wie so oft bei Bergman kämpfen die Bürger heldenhaft mit ihren gewaltigen Ängsten, unterhalb ihrer Klasse scheint man - von Ausnahmen wie dem Fischer Jonas Persson (Max von Sydow) in »Licht im Winter« einmal abgesehen - zu dumm für die Angst zu sein. Und Perssons Angst vor der chinesischen Atombombe wirkt eh trivial.

Jenseits dieser Hauptlinie, jenseits der berühmten Filme und ihres imposanten, oft aufdringlichen Stils finden sich aber viele kleine Einsichten und Überraschungen. Der junge Bergman hat überzeugend auch proletarische Schicksale gestaltet. Die Pointe von »Hafenstadt« (1948) ist, dass die Unteren in Schweden, mehr noch als von Armut, Ausbeutung und Gewalt, von der Fürsorglichkeit des Staates unterjocht werden. Ohne Mätzchen fotografiert das Gunnar Fischer, der die Kamera noch bei »Einen Sommer lang« (1951) führt. Das ist, verglichen mit dem »Siebenten Siegel«, erst recht mit dem »Schweigen« oder mit »Persona« (1966), ein angenehm unreiner Film, mal romantische, gar naive Komödie, mal Melodram, mal philosophisches Kammerspiel. Zwar gibt es schon die extremen Nahaufnahmen, mit denen Bergman nach eigener Aussage »dem Teufel auf den Pelz rücken« wollte, aber sie fügen sich nicht in eine homogene Form.

»Einen Sommer lang« handelt von einer Begegnung mit der eigenen Kindheit, aber nicht so sentimental wie in »Wilde Erdbeeren« (1957), nicht so psychologisch wie in »Fanny und Alexander« (1982), sondern fast abstrakt: Wer die Gefühle seiner Kindheit einhegen, wer funktionieren wolle, sagt der zynische Bourgeois, Onkel Erland (Georg Funkquist), der müsse »Mauern bauen«. Mauern bauen und sich auf Inseln verschanzen - Bergmans Personal folgt fast überall dem Rat von Onkel Erland.

Doch selbst auf der Insel können sie ihren Garten nicht in Ruhe bestellen. In »Schande« (1968) werfen Kampfflugzeuge Napalm über Fårö ab, zerstören marodierende Truppen Bauernhäuser und wälzen sich Panzer durch die Stadt. Wie schon im »Schweigen« bleibt offen, wessen Panzer das sind. Dennoch ist der Film politisch, denn er zeigt, wie der Krieg fast notwendig Menschen, die nur noch ihrem Überlebensinstinkt folgen, verroht. Jan Rosenberg (Sydow) ist ein wehleidiger Narzisst mittleren Alters, fest davon überzeugt, solange das Radio kaputt ist und er gar nicht erst weiß, wo die Truppen stehen, käme er unbeschadet davon. Selbst Eva, seine schöne Frau (Liv Ullmann), hält das für gaga, aber die Inselsituation bindet sie doch fester an diesen Albtraumtänzer, als ihr lieb sein kann. Wie sich Bergmans Held im Krieg von einer Memme in eine Bestie verwandelt, ist ebenso schockierend wie komisch.

Bergman zeigt in »Schande«, wie gut er sich auf schwarzen Humor versteht. Da taucht mitten im Tumult eine Propagandaabteilung mit Kamera auf und sammelt »Stimmen der Befreiung« oder Eva ruft verbittert aus: »Sobald der Friedensvertrag steht, ist es aus zwischen uns!« Wie so oft bei Bergman gibt ein Ehekonflikt den Hintergrund ab. Ehe und Familie - auch das bürgerliche Relikte. Er hat an ihnen festgehalten, obwohl er sie bis zuletzt, in »Sarabande« (2003), einer Fortsetzung der »Szenen einer Ehe« (1973), als klimatisierte Hölle dargestellt hat. Spätestens seit »An die Freude« (1950) scheitern in seinen Filmen die Ehen am Narzissmus des Mannes, der häufig ein Künstler ist.

Margarethe von Trottas Film übrigens ist unverzichtbar für alle ihre Bewunderer. Bewunderer Bergmans müssen ihn nicht gesehen haben, auch wenn der Regisseur Stig Björkman darin einiges Gutes sagt. Aber sie seien daran erinnert, dass es immer noch einen Bergman gibt, den kaum einer kennt.

»Auf der Suche nach Ingmar Bergman«, Deutschland 2017. Regie/Buch: Margarethe von Trotta, Felix Moeller, Bettina Böhler. 97 Min. Seit Donnerstag im Kino.

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