• Politik
  • Repression in der Türkei

Gewerkschaften in Erdogans Visier

In der Türkei wird die staatliche Überwachung von Arbeiterbewegungen ausgeweitet

  • Svenja Huck
  • Lesedauer: 3 Min.

Schon lange ist es der Wunsch Erdogans und seiner AKP, Kontrolle über die Gewerkschaften zu erlangen. Nun ist der türkische Präsident seinem Wunsch einen großen Schritt näher gekommen. Mit dem Dekret vom 15. Juli - dem zweiten Jahrestag des Putschversuchs - stellt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Staatlichen Aufsichtsrat (türk. Devlet Denetleme Kurulu) unter seine Kontrolle. Dessen Aufgabe ist die Überwachung von Vereinen, Stiftungen, Berufskammern und Gewerkschaften. Die Kompetenzen reichen vom Einblick in sämtliche Aktivitäten dieser Organisationen bis hin zur Einsicht in deren Verwaltung und Finanzen - ohne richterlichen Beschluss. Mit dem neuen Dekret werden diese Kompetenzen nicht nur direkt an den Präsidentenpalast gebunden, sondern noch weiter ausgebaut. So wird es unter anderem möglich sein, dass gewählte Vereins- oder Gewerkschaftsvorsitzende durch den Aufsichtsrat entlassen werden können. Da sich bereits ein Großteil der Gewerkschaften in der Hand der AKP und MHP befindet, trifft dies in erster Linie oppositionelle Arbeitervertretungen.

Eyüp Özer, internationaler Sekretär der linken Gewerkschaft Birleşik Metal İş, stellt das Dekret in eine Reihe von Versuchen der AKP, Zugriff auf die Gewerkschaften zu erlangen: »Seit Jahren versucht die AKP, Kontrolle über Gewerkschaften und Berufskammern zu erlangen. Sie schickte zum Beispiel Vertreter zu den Sitzungen der Ärztekammer und der Ingenieure, doch hatte dort keinen Erfolg. Jetzt haben sie konkrete Mittel, diese Organisationen unter Druck zu setzen.« Noch findet das kürzlich erlassene Dekret keine praktische Anwendung. »Doch die Drohung steht nun immer im Raum«, so Özer, der befürchtet, das neue Dekret führe zu mehr Selbstzensur der Opposition. Die Menschen würden sich noch weniger trauen, über bestimmte Themen in der Öffentlichkeit zu sprechen.

Als potenziellen Anlass für die Anwendung des Dekrets nennt Özer politische Statements, wie das der Ärztekammer. Anfang des Jahres gerieten Vorsitzende dieser Kammer ins Visier der Regierung, da sie den Angriff der türkischen Armee auf die Stadt Afrin in Nordsyrien kritisierten. Kurz darauf wurden elf von ihnen unter dem Vorwurf verhaftet, »Propaganda für eine Terrororganisation« und »Aufwiegelung des Volks zu Hass und Feindseligkeit« betrieben zu haben.

Mit diesem Dekret will Erdogan nun die Angriffsfläche der AKP an ihrer schwächsten Seite verringern, bevor sie ihm gefährlich werden könnte. Momentan liegt der Anteil von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern in der Türkei bei nur zehn Prozent, doch die Anzahl von Streiks und Protesten steigt. Vor allem die linken Gewerkschaftsverbände DISK und KESK mobilisieren in den Betrieben, ihre Mitglieder sind von Repression betroffen. Doch eine politische Lösung für die Krise fehlt nach wie vor. Özer meint: »Ohne linke Alternative bietet bei steigender Arbeitslosenzahl nur die extreme Rechte scheinbar einfache Lösungen. Höchstwahrscheinlich werden auch Angriffe auf syrische Geflüchtete zunehmen.« Viele von ihnen, darunter Kinder, arbeiten schwarz und werden als Lohndrücker eingesetzt. »In diesem Klima können die rechtsextremen Parteien, die jetzt schon im Parlament sind, noch stärker werden«, befürchtet Özer.

Die wirtschaftliche Situation war eines der Kernthemen der Opposition im Wahlkampf der letzten Monate, denn die Türkei schlittert auf eine Wirtschaftskrise zu. Die Lira verliert konstant an Wert, viele türkische Unternehmen sind hoch verschuldet und jeder fünfte Jugendliche zwischen 14 und 23 Jahren ist arbeitslos. Dass die AKP diese wirtschaftlichen Probleme lösen wird, ist nicht absehbar. Hin und wieder mache die AKP zwar Zugeständnisse wie bei der Erhöhung des Mindestlohns im Jahr 2016 oder der Regulierung von Leiharbeitsverträgen, berichtet Özer. Doch das permanente Verbot von Streiks zeige, dass sie eine ernsthafte Mobilisierung gegen sich nicht dulden würde.

Erdogan ist ungebremst dabei, den Staat im Eiltempo umzustrukturieren und unter seine alleinige Kontrolle zu stellen. Und der Gewerkschaftsverband DISK weiß noch nicht, wie er mit dem Dekret umgehen werde. Genau so, sagt Özer, wie die gesamte Opposition nach den Wahlen paralysiert sei und es noch keinen ernsthaften Kampf gegen Erdogans neues System gibt.

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