Clemens wünscht sich einen Einbrecher
Gianna Molinari fängt in ihrem Roman »Hier ist noch alles möglich« behutsam die Befindlichkeiten der Mittelklasse ein
Wovon träumt eine Person, die alles hat? Die Ich-Erzählerin in Gianna Molinaris soeben erschienenem Romandebüt »Hier ist noch alles möglich« weiß es: »Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht. Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichten zugleich.«
Es ist genau dieser Sound, den zuletzt der Großschriftstellersohn Simon Strauß in seinem Essay »Sieben Nächte« angeschlagen hat. Viele Feuilletonisten erkannten sich in dieser traurigen Abwesenheit von Leben offenbar wieder, und so verkaufte sich das die Belanglosigkeit einer privilegierten Existenz gnadenlos ausschlachtende Werk blendend.
Im Gegensatz zu Strauß schwingt bei Molinari zwischen den Zeilen nicht die aus dem frühen 20. Jahrhundert sattsam bekannte Sehnsucht nach einem Stahlbad hindurch. Nein, diese junge Frau zieht nicht in den Krieg, sondern in eine Fabrik. Vom Beruf der Bibliothekarin gelangweilt, nimmt sie einen Job an als Nachtwächterin in einem kurz vor der Schließung stehenden Betrieb, der irgendwo im Nirgendwo am Rande einer kleinen Stadt vor sich hingammelt.
So ganz erschließt sich nicht, weshalb der selten anwesende Chef diese Bude nicht längst dicht gemacht hat. Und das passt sehr gut in die Atmosphäre des Vagen und Offenen, die dieses Buch vermittelt. Für die junge Frau, deren Name nicht genannt wird, ist die Fabrik genau der richtige Ort. Auf diesem Gelände arbeitet sie nicht nur, sie wohnt auch hier. Ihre menschlichen Kontakte beschränken sich auf das überschaubare Personal mit und ohne Anstellung, das ihr als Sparringspartner dienen darf auf der Suche nach Sinn und Form: der Koch, Clemens, Lose, Erika - und ein Wolf, den niemand je gesehen hat, der aber angeblich umherstreift.
Die Mitarbeiter stellen Tellereisen auf, graben eine Grube, erwarten die Ankunft des Tiers. An diesem in der Literaturgeschichte so viel beachteten Geschöpf arbeitet sich die Erzählerin ab. Der Wolf ist der nicht Anwesende, der omnipräsent zu sein scheint. Er verkörpert jene Unsicherheit, die ihr gelegen kommt. »Clemens wünscht sich einen Einbrecher«, sagt sie eines Nachts, und sie fügt hinzu: »Auch ich habe mir schon einen Einbrecher gewünscht.« Der Kabarettist Rainald Grebe hat diesen von Molinari in ihrer trockenen Sprache behutsam eingefangenen Mittelklasseblues in seinem Lied »Familie Gold« so poetisiert: »Unsere Eltern haben uns mit Hanuta beworfen, unsere Nachbarn mit Nivea-Creme. / Es hat uns an nichts gefehlt, aber genau das war das Problem.«
Und dann fällt ein Mensch vom Himmel. Lose hat ihn stürzen sehen, die Erzählerin findet dessen Aufzeichnungen in einer Mappe. Es war ein afrikanischer Flüchtling, der sich offenbar im Fahrwerk eines Flugzeugs versteckt hatte, dort erfroren war, und dessen Leichnam dann, als die Maschine zur Landung ansetzte, hinauskatapultiert wurde.
Für diese Binnenerzählung, deren Eckdaten Molinari tatsächlich einer Medienmeldung entnommen hat, erhielt die Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts Biel im vergangenen Jahr den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Es spricht für sich, dass die harte Realität in das Dasein der Hauptfigur auf eine deren Handeln entzogene Weise einbricht. Sie reflektiert nicht, welche globalkapitalistischen Mechanismen einen Menschen dazu bringen, sich in ein Fahrwerk zu zwängen, um anderswo ein neues Leben zu beginnen. Viel zu sehr hat sie damit zu tun, sich ihr eigenes Bild von der Welt zu gestalten.
Das geschieht über Zeitungsausschnitte, Zeichnungen und Fotos, die Molinari in den Text montiert hat. Während das Warten auf den Wolf weitergeht, hilft das wohl beim Fahnden nach dem Wesen aller Dinge. Molinaris achtsam geschriebener Roman lebt von diesem Grundgefühl einer Generation, die ob allzu vieler Optionen nicht mehr weiterweiß. Jahrzehntelang sind Frauen für das Recht eingetreten, Karriere machen zu dürfen. Sie imitierten das soziale Geschlecht des Mannes, lachten gequält an Hotelbars beim Whisky über Herrenwitze, gewöhnten sich strenge Tonlagen an, und sie fuhren die Ellbogen aus, wenn es nötig erschien. Nun betrachten aber viele Frauen der »Generation Y«, der auch die Protagonistin in diesem Buch angehört, all das kaum mehr als Errungenschaften.
Karriere machen wollen sie noch immer, aber nicht mehr ohne Sinn und Verstand. Männliche wie weibliche Ypsiloner, so beschreibt es die Journalistin Christiane Florin in ihrer 2014 erschienenen Polemik »Warum unsere Studenten so angepasst sind«, haben ein anderes soziales Bewusstsein als ihre Vorgängergeneration: »Die soziale Frage wirkt auf sie wie ein akademisches Konstrukt vergangener Tage. Social Media, Urban Gardening und Containern reichen als Ausweis sozialer Sensibilität. Occupy war eine Zeitlang cool, aber es ist leichter, gegen eine anonyme Finanzindustrie zu sein als für Mandy aus der Hartz-IV-Familie in Bonn-Dransdorf.«
Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich. Aufbau, 192 S., geb., 18 €.
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