Was gut und wahr sei

J. M. Coetzee: Sein neuer Roman »Die Schulzeit Jesu« weckt Assoziationen zu Dostojewski

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Coetzee, der Literaturnobelpreisträger aus Südafrika, war schon immer ein Schriftsteller der Widersprüche. Ablesen kann man das an den unterschiedlichen Interpretationen seiner zahlreichen Werke, die von den einen als »postmoderne Spielerei«, von anderen als intelligente »Reflexionen der Wirklichkeit« verstanden wurden. Auch sein neuester Roman, »Die Schulzeit Jesu«, lässt sich nicht auf eine Lesart festlegen.

Nach »Die Kindheit Jesu« ist es das zweite Buch, das den Leser mit einem religiösen Titel in die Irre führt. Denn es geht J. M. Coetzee nicht um die Hagiographie der christlichen Zentralfigur, sondern um die Geschichte des 45-jährigen Simón, des fünfjährigen David und seiner Mutter Inés, die in »Die Kindheit Jesu« ihre Heimat verlassen und sich als Migranten in einem Ort namens Novilla niedergelassen hatten. Um David vor der staatlichen Schule zu bewahren, verlassen sie in »Die Schulzeit Jesu« Novilla wieder. In der Nähe von Estrella, einem Nachbarort, erhalten sie zunächst Arbeit auf einer Farm. Deren Eigentümer, drei kinderlose Schwestern, vermitteln David an eine Tanzakademie in der Stadt. Zwar betrachten Simón und Inés die Akademie skeptisch, denn statt die grundlegenden Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln, wird den Schülern ein mystischer Tanz beigebracht, aber die Schwestern übernehmen das Schulgeld und David fühlt sich dort wohl.

Auch hier, wie im ganzen Roman, hat Coetzee die Einzelheiten so gestaltet, dass sie einerseits deutlich an die Wirklichkeit erinnern, andererseits nie völlig mit ihr übereinstimmen. Die Philosophie der Tanzakademie, die von Ana Magdalena und Juan Sebastián Arroyo geleitet wird, erinnert beispielsweise entfernt an die anthroposophische Eurythmie. Allerdings nur so weit, wie der Leser die Beschreibung als plausibel akzeptiert. Neben der vagen Bestimmung und Coetzees sparsamer Schreibweise führt die Gestaltung der Figuren dazu, dass der Roman einen parabelhaften Eindruck vermittelt. So heißt beispielsweise der oberste Wächter des Museums von Estrella, in dessen erstem Stock die Tanzakademie untergebracht ist, Dimitri.

Dabei erinnert nicht nur sein Name an Dimitri Karamasow aus Dostojewskis »Die Brüder Karamasow«, sondern auch seine leidenschaftliche Liebe zu Ana Magdalena Arroyo. Wie der Namensvetter in Dostojewskis Roman steht der Museumswärter für eine von ihm als authentisch empfundene Leidenschaft ein, während er dem zurückhaltenden und vernünftigen Simón Heuchelei, Lethargie und Feigheit vorwirft.

Während David die Philosophie des Tanzes von Ana Magdalena und ihrem Mann besonders gut zu verstehen scheint, ist sie für Simón nur »mystischer Schwachsinn«. Auch die Freundschaft zwischen Dimitri und David sieht er kritisch. An einer Stelle sagt Dimitri zu Simón, dass sich David die Intuition, »was gut und wahr« sei, bewahrt habe. Andere Kinder verlören diese Intuition im Laufe des Erwachsenwerdens. Es sind solche Stellen, an denen David allerdings auch nur entfernt an die Titelfigur Jesus erinnert. Als es dann wie in »Die Brüder Karamasow« zur Katastrophe kommt, wird deutlich, dass Coetzee in »Die Schulzeit Jesu« nicht eindeutig Stellung bezieht, weder für die mystische Überwindung der Trennung von Körper und Geist, wie sie die Arroyos lehren, noch für Simóns vernünftige Zurückhaltung oder Dimitris rücksichtsloses Ausleben der Leidenschaft.

Zwar werden erzählerisch alle diese Positionen entfaltet, am Ende aber zu keiner Synthese zusammengeführt. Der Roman kann gleichzeitig als Diskussion zentraler philosophischer Fragen gelesen werden wie auch als realistische Migrationsgeschichte. Ein Buch, das ein weiteres Mal zeigt, dass im Augenblick keiner diese Art von Literatur so gut schreiben kann wie J. M. Coetzee.

J. M. Coetzee: Die Schulzeit Jesu. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag. 320 S., geb., 22 €.

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