Eine Klassenfahrt

Die Akademisierung der Fachhochschulen hat ebenso wenig wie die stärkere Praxisorientierung der Universitäten für mehr Chancengleichheit gesorgt. Von Isidor Grim

  • Isidor Grim
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Frage «Uni oder Fachhochschule?», die im Sommer stets durch die Presse geistert, kehrt wieder und wieder auf den Bildungsseiten der Zeitungen oder unter der Rubrik «Chancen» als Beratungsservice für Schulabgänger, die noch nicht wissen, welche berufliche Laufbahn sie einschlagen sollen.

Dabei beschäftigen die meisten Neu-Studenten andere Fragen. «Ich habe mich für die Universität entschieden, weil nur da Physikalische Ingenieurswissenschaften angeboten werden. Ob Uni oder Fachhochschule, ich muss neben dem Studium so oder so arbeiten, da meine Eltern mich nicht unterstützen können», erzählt Florian aus Berlin.

Das Thema hat seine Saison zur selben Zeit wie die ewig währende studentische Wohnungsmisere in Ballungsgebieten zum Semesterbeginn - zu wenig Wohnungen, zu hohe Mieten - oder die Hochschulproteste im Oktober. Unter der Oberfläche bleibt die Tatsache, dass es niemals Chancengleichheit in Deutschland gegeben hat und auch niemals geben soll.

«Schon in den 60er Jahren bestand unter Bildungsforschern und -politikern Einigkeit darin, dass die Bildungschancen ungleich verteilt sind, oder anders formuliert, dass im deutschen Bildungssystem neben der Auslese nach Leistung auch eine leistungsfremde, ›nicht meritokratische‹ Auslese stattfand», sagt Rainer Geißler, Soziologe an der Universität Siegen. «Als wichtige benachteiligte Gruppen wurden Arbeiterkinder und Mädchen identifiziert. Während die Bildungsdefizite der Mädchen inzwischen verschwunden sind, erweisen sich die schichttypischen Chancenunterschiede als außerordentlich widerstandsfähig.» In der Tat hat sich die Geschlechterverteilung im Bildungssystem verändert. 2017 besaßen 35,8 Prozent der männlichen und 31,3 Prozent der weiblichen Bevölkerung die Fachhochschul- oder die Hochschulreife; in der Gruppe der Gruppe der unter 35-jährigen liegen die Frauen mit einem Anteil von rund 52 Prozent sogar vor den Männern (rund 49 Prozent). Aber immer noch beginnen von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 74 ein Studium; von 100 Kindern aus Familien ohne studierte Eltern sind es dagegen lediglich 21.

Von den 397 Hochschulen in Deutschland sind 181 Universitäten und 216 Fachhochschulen, auf die sich die 496 593 Studienanfänger (2017) im Verhältnis drei zu zwei verteilen. Das Entscheidende ist aber: Wer es so weit geschafft hat, vor der Wahl zwischen den beiden Hochschultypen zu stehen, der hat einen guten Teil des Ausleseprozesses im deutschen Bildungssystem schon überstanden.

In der medialen Öffentlichkeit wird dieser Ausleseprozess gerne mit Wortschöpfungen wie «schichttypische Chancenunterschiede», «geringe Bildungsmobilität» oder «soziale Durchlässigkeit» umschrieben. Der US-amerikanische Multimilliardär Warren Buffett nannte dagegen schon vor Jahren das Kind beim Namen nennt: «Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.» («New York Times», 26. November 2006)

Anders als in Skandinavien werden die Schwächeren in Deutschland - und die Ärmeren sind immer die Schwächeren - durch alle Schultypen hindurch nicht nur nicht gefördert, sondern auch ausgesiebt. Guido Neidhöfer und Maximilian Stockhausen, Nachwuchswissenschaftler der Freien Universität, haben die Daten einer Langzeitstudie (SOEP) ausgewertet, die seit rund 30 Jahren soziale Entwicklungswege untersucht. «Wir fanden heraus, dass die Bildungsmobilität über einen längeren Zeitraum in Deutschland deutlich geringer ist als in anderen Ländern», sagt Neidhöfer. Wenn man die zwischen 1960 und 1985 Geborenen betrachtet, haben nur 20 Prozent derjenigen, deren Großeltern noch ein niedriges Bildungsniveau aufweisen, einen veritablen «Bildungsaufstieg» hingelegt. In den USA schafften es 23 Prozent über zwei Generationen, in Großbritannien sogar 31 Prozent. Dass sich das seit den 2000er Jahren, seit dem «PISA-Schock» nicht oder sogar zum Schlechten verändert hat, ist Konsens unter Bildungswissenschaftlern.

Soweit der Schaden, der dem Nachwuchs vor dem Hochschulbesuch zugefügt wird. Mit Ende der Schulzeit ist es die Wirtschaft, deren ausschließliche Profit- oder Geschäftsorientierung die jungen Menschen daran hindert, etwas für die Gesellschaft zu tun und sei es nur, indem sie genügend Ausbildungsplätze und danach gut bezahlte, langfristige Jobs anzubieten.

Welche Rolle dabei die Hochschulreform spielt, berichtet die Medizinstudentin Katerina Elisa aus Graz: «In Österreich war es früher so, dass die Krankenschwester- oder -pflegerausbildung drei Jahre dauerte und in direkter Zusammenarbeit mit einer Klinik stattfand. Man musste mindestens 17 Jahre alt sein, mittlere Reife haben und gute Noten. Außerdem gab es einen Eignungstest, aber die Aufnahmequote war hoch. Ich fand immer, dass man im Pflegeberuf mehr verdienen sollte, aber der Verdienst war trotzdem ganz in Ordnung. Dieser Beruf war einfach auch gesellschaftlich ›angesehen‹ und eine gute Alternative, vor allem für Mädchen, die eben nicht die klassische Lehrlingsausbildung machen, aber auch nicht studieren wollten und sozial eingestellt waren.

Und jetzt? Mittlerweile wurde die Ausbildung akademisiert, man muss jetzt die Matura haben und dann drei Jahre an einer Fachhochschule studieren. Dann muss man eine Bachelorarbeit schreiben. Jetzt, so Elisa, studieren viel weniger auf den Beruf der Krankenschwester oder des -pflegers, als früher die Ausbildung gemacht haben. Deshalb sei der Beruf des Pflegehelfers eingeführt worden, eine nicht mal einjährige Ausbildung, die dazu befähigt, der studierten Schwester bzw. dem studierten Pfleger zu helfen.

Und die Folgen? »Auf einer Station sind dann eben nicht mehr 20 ausgebildete Krankenschwestern oder -pfleger, die ganz gut bezahlt werden, sondern ein Studierter, der ein bisschen mehr bekommt, aber auch die Leitung der Station hat, und 19 Pflegehelfer die den Mindestlohn erhalten«, schildert Elisa die Situation.

Diese Pervertierung der Arbeitswelt hat sich in vielen Bereichen durchgesetzt und, man kann es sagen, auch vor den akademischen Berufen nicht halt gemacht. Der Lehrerberuf etwa, zu dem die Tausenden wissenschaftlichen Mitarbeiter an den Hochschulen und die freiberuflichen Lehrkräfte an den privaten Erwachsenenschulen aller Art mit gezählt werden müssen, könnte prekarisierter nicht sein. Juristen und Ärzte sehen sich mit Algorithmen künstlicher Intelligenz konfrontiert, die ihre Tätigkeit entwertet.

Diese Entwicklung ereignete sich nicht zufällig, sie ist hausgemacht: staatliches Versagen, das nicht geahndet wird; pädagogisches Versagen, für das die Lernenden bestraft werden; wirtschaftliches Versagen, durch das Deutschland zum Lohndrückerland Nummer eins wurde. Das Bundesbildungsministerium dokumentiert die Ergebnisse seit mehr als 20 Jahren in einer Langzeitstudie (»Studierendensurvey«). Ihre letzte Bilanz: der Arbeiteranteil an Unis nimmt weiter ab.

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