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Ein neues Wir

Mario Neumann vom »We’ll Come United«-Netzwerk über die antirassistische Parade am 29. September in Hamburg, die Sammlungsbewegung und die Lehren aus Chemnitz

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 8 Min.

In den vergangenen Tagen hat in Chemnitz ein rassistischer Mob gewütet, die Polizei hatte die Lage nicht unter Kontrolle. Was bedeutet das für Migrant*innen und Geflüchtete in Deutschland?
Chemnitz schockiert, aber darf eigentlich niemanden überraschen. Man denke etwa an Heidenau oder Freital oder auch den NSU, für den Chemnitz eine Hauptstadt war. Der Mob wütet nicht seit ein paar Tagen, sondern seit Jahrzehnten – aber mit unterschiedlichen Konjunkturen und am liebsten in Sachsen. Gegenwärtig erleben wir, letztlich seit der Sarrazin-Debatte 2010, eine neue Welle des Rassismus, die von einem Gefüge staatlicher Institutionen über die AfD bis zu den Nazis reicht. Für die antirassistische Bewegung bedeutet das, dass wir uns nicht auf Staat, Polizei und auch nicht auf eine ebenso empörte wie passive Zivilgesellschaft verlassen können. Die Solidarität und gemeinsame Organisierung von und mit Migrant*innen ist die Grundvoraussetzung jeder wirksamen antifaschistischen Strategie.

Sie wollen mit der antirassistischen »We’ll Come-United«-Parade am 29. September in Hamburg diese Solidarität zum Ausdruck bringen. Was ist dort geplant?
Wir planen bereits zum zweiten Mal eine politische Parade der antirassistischen Bewegungen unter dem Motto »United Against Racism« (Zusammen gegen Rassismus). Letztes Jahr hatten wir vor der Bundestagswahl in Berlin mit 10.000 Menschen demonstriert. Dieses Jahr gehen wir in Hamburg auf die Straße und erwarten mindestens 20.000 Teilnehmer*innen. Über 300 Organisationen rufen zur Teilnahme auf, darunter Lampedusa in Hamburg, mehrere Flüchtlingsräte und das Tribunal »NSU-Komplex auflösen«. Es geht uns vor allem darum, Sichtbarkeit für die Situation und die Kämpfe von Geflüchteten herzustellen. Wir wollen ein politisches Wir schaffen, das sich nicht spalten lässt. Und das gesellschaftlich schon längst Realität ist.

Zur Person

Mario Neumann ist Aktivist im »We’ll Come United«-Netzwerk und Mitinitiator des Aufrufs »Solidarität statt Heimat«. Das Papier spricht sich gegen Rassismus und für eine solidarische Gesellschaft aus, fast 17.000 Menschen haben bisher unterschrieben. Die »We’ll Come United«-Parade findet am 29. September in Hamburg statt. Mit Neumann sprach Sebastian Bähr.

Wer soll alles nach Hamburg kommen?
Es kommen ganz sicher viele der beeindruckendsten Menschen, die in Deutschland und in Hamburg leben. Es kommen all die, die sich nichts erzählen lassen. Alle, die sich nicht spalten lassen. Diejenigen, die täglich in den Unterkünften, auf der Ausländerbehörde oder in unterbezahlten Jobs für ihr Recht auf ein gutes Leben kämpfen. Die, die auf dem Mittelmeer retten und gerettet wurden. Wir werden ganz sicher viele sein und ein phantastisches Bild abgeben: Das Bild einer solidarischen Gesellschaft der Vielen.

Ob die »ausgehetzt«-Demo in München oder die bundesweiten »Seebrücke«-Proteste – haben Teile der Zivilgesellschaft, die bisher geschwiegen haben, nun genug vom Rechtsruck?
Ja. Sie haben genug vom Rechtsruck, aber auch von einer spezifischen Verengung der »sozialen Frage«, wie sie Teile der Linken und der Gewerkschaften häufig vorschlagen. Das globale Problem ist eben auch, dass der Kapitalismus den Menschen nahelegt, dass Solidarität, Anteilnahme und gemeinsame Kämpfe nutzlos sind, bedeutungslos. Dass wir alle ohnmächtig sind und uns um uns selber kümmern müssen, wenn wir nicht untergehen möchten. Dagegen muss jede linke Politik sich richten. Stattdessen schaute man aber lieber auf die »besorgten Bürger« der AfD.

Haben Teile der Linken sich zu sehr um die »besorgten Bürger« von rechts gekümmert?
Viele machen gerade ihre Kompromisse mit der rechten Hegemonie und legen darin einen neuen Linksnationalismus auf, der so neu natürlich nicht ist. Im Zentrum steht letztlich der Versuch, die real existierende Gesellschaft der Vielen auch von links zu hierarchisieren. Chemnitz zeigt: das ist manchmal vielleicht gut gemeint, aber gesellschaftspolitisch fatal.

Wie geht denn Sahra Wagenknecht und ihre Sammlungsbewegung aus Ihrer Sicht mit dem Thema Migration um?
Genau in Sinne einer eingeengten sozialen Frage. Man glaubt, dass die Armen und die unteren Klassen nur über ihren Egoismus ansprechbar sind, weil es ihnen schlecht geht. Anstatt nun in einer neuen politischen Bewegung den solidarischen, internationalistischen Kern jeder Klassenpolitik stark zu machen, sagt man lieber: Solidarität ist nur dann möglich, wenn man funktionierende Grenzen der Nation zieht, weil der Staat nicht für alle sorgen kann. Man erklärt alle zu Opfern und dann macht man eine Opferkonkurrenz auf. Der Horizont linker Politik wird auf die Logik des Staates und des Nationalen verengt.

Aber kann denn der Staat für alle sorgen?
In Deutschland reden viele immer so, als wären sie selbst der Staat, als gäbe es kein politisches Denken und Handeln außerhalb staatlicher Logiken. Das ist aber nicht die Aufgabe einer internationalen Linken. Wenn Menschen kommen, stellen sie Ansprüche und kämpfen für ihre Rechte. Ich persönlich freue mich über jeden, der das in Deutschland tut.

Wäre der Bezug auf solidarische Städte, wie sie die »Seebrücke«-Bewegung fordert, eine Alternative zum linken Staatsbezug?
Die Städte sind ganz sicher die zentralen Orte, wo eine Politik jenseits des Nationalstaates erprobt und auch Wirkung entfalten kann. Sie sind Orte der politischen Phantasie einer neuen Linken, auch für die institutionelle Linke. Progressive Stadtregierungen bilden auch auf nationalem und europäischem Terrain das zentrale Gegengewicht zum nationalistischen Rutsch auf dem Kontinent.

Zurück zur Sammlungsbewegung. Viele sind offenbar der Ansicht, dass sich die Interessen von weißen, hier geborenen Lohnabhängigen und von Geflüchteten widersprechen. Stimmt das?
In der linken Debatte wird oft so getan, als ließen sich politische Handlungen immer nur auf materielle Interessen zurückführen. Das ist nicht nur verkürzt, sondern führt auch zu Fehlentscheidungen. Vor allem, weil man glaubt, linke Mobilisierung würde sich immer nur an den Fragen des Geldbeutels entzünden. Aber Menschen wollen auch anders leben, nicht nur weniger Miete bezahlen oder mehr verdienen. Sie wollen mit anderen zusammen eine andere Qualität des Zusammenseins haben als diese abgestumpfte Monotonie des Neoliberalismus und die Kälte der Ausländerbehörde. Deswegen gehen sie zur Willkommensinitiative, zur Kiezversammlung und zur »Seebrücke«. Viele Linke können sich das scheinbar nicht erklären.

Die Mitglieder der Sammlungsbewegung verweisen darauf, dass sie Fluchtursachen bekämpfen wollen. Ist das nicht etwas Positives?
Sie verweisen darauf, dass sie Fluchtursachen bekämpfen wollen, anstatt mit Geflüchteten solidarisch zu sein. Das ist ihr populistischer Trick. Das ist, als würde man bei einem Arbeitskampf sagen: ich bin gegen den Streik, lasst uns lieber bessere Arbeitsbedingungen schaffen. Im Übrigen ist Fluchtursachenbekämpfung eine bloße Position, der im Moment gar nichts folgt. Sie hilft erst mal niemandem, der gerade auf einem Boot sitzt oder in einer Unterkunft.

Für einige Linke ist das eine moralische Argumentation.
Ich denke, dass dieser Vorwurf mehr über die Verfassung der Linken aussagt als über antirassistische Politik. Wir leben in einer antagonistischen Gesellschaft. Daher ist es der Ausgangspunkt jeder linken Politik, auf der Seite der Beherrschten und Unterdrückten zu sein. Und natürlich gibt es darin eine Dringlichkeit: Menschen sterben auf dem Mittelmeer, werden angegriffen und durch die Straßen gehetzt. Das erfordert praktische Solidarität und die Fähigkeit, effektiv in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einzugreifen. Dabei geht es eben nicht um »unsere« moralische Berücksichtigung »der Anderen«. Es geht darum, ein gemeinsames Wir zu entwickeln. Solidarität ist eine politische Praxis, keine moralische Einstellung.

Was ist - zusammengefasst - der Unterschied zwischen der Sammlungsbewegung von Wagenknecht und Ihrer Bewegung bei »We’ll Come United«?
Wir wollen uns gemeinsam eine Zukunft erkämpfen mit allen, die hier sind und noch kommen. Wagenknecht verspricht den Menschen eine Vergangenheit zurück, die es nie gegeben hat.

Wie wollen Sie für diese gemeinsame Zukunft kämpfen?
Als Arme, als Geflüchtete, als Ausgeschlossene oder Prekäre müssen wir unsere Würde auch als positive Ressource, als Potential entdecken. Wenn jemand mit einem Schlauchboot über das Mittelmeer kommt und danach monatelang in einer Notunterkunft wohnt, weiß er mehr über Europa als viele, die schon seit Jahrzehnten hier leben. Es geht in diesem Sinne darum, verschiedene Menschen, Kämpfe und Geschichten zu verknüpfen. Nicht als Vollzug des klassenpolitischen Masterplans, sondern als gemeinsamen Prozess. Wenn bei Pflegestreiks die umgeschulten Geflüchteten und die in Spanien angeworbenen Pfleger*innen zu Wort kommen, ist das ein großartiger Beitrag zu einer solchen Koalition unterschiedlicher Kämpfe.

Eine praktische Frage: Was würden Sie dem älteren weißen Pfleger in Chemnitz sagen, der sich vor Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt und Lohndumping durch Migrant*innen ängstigt?
Ich würde zuerst empfehlen, die #metwo-Debatte zu lesen. Da sieht man nämlich, dass zum Beispiel bei der Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt im Zweifel so gut wie immer derjenige mit deutschem Namen die Wohnung bekommt. Wenn im Schnitt Migrant*innen 33 Prozent und Frauen 15,5 Prozent weniger verdienen, dann sind sie zudem auch diejenigen, die auf dem Arbeitsmarkt am meisten ausgebeutet werden. Wenn man sich vor der Sogwirkung fürchtet, dann muss man gemeinsam kämpfen.

Wenn man sich die jüngsten Hetzjagden auf Flüchtlinge und Migrant*innen in der Stadt in Erinnerung ruft: Ist hier ein friedliches Zusammenleben überhaupt noch denkbar?
Ein wie auch immer gezeigtes Verständnis mit vermeintlichen Ängsten vor »Überfremdung« hilft da sicher nicht. Überall, auch und gerade im Osten, gibt es Menschen, die sich gegen die rassistische Kälte entscheiden und organisieren. Diese Menschen muss man stärken. Und man muss allen anderen zeigen, dass sie sich dafür entscheiden dürfen. Und dass sie die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen haben, wenn sie es nicht tun.

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