Kampf gegen Kapitalismus und Irrenhaus

Studentenrevolten stießen vor 50 Jahren auch eine Reform der Psychiatrie an

  • Claudia Rometsch
  • Lesedauer: 3 Min.

Die 17-jährige H. D. hatte schon einiges hinter sich, als sie 1954 in die Nervenklinik Andernach eingewiesen wurde. Laut Krankenakten war sie verwahrlost und möglicherweise vom Vater missbraucht worden. Außerdem litt sie an epileptischen Anfällen. Doch in der Klinik wird für sie alles nur noch schlimmer. Sie muss den ganzen Tag im Bett liegen und darf sich nicht bewegen. »Wenn ich an euch denke, so muss ich weinen«, schreibt sie ihren Schwestern.

Der Alltag in den psychiatrischen Anstalten war in der Nachkriegszeit von Zwangsmaßnahmen geprägt. Erst seit einigen Jahren wird ihre Geschichte systematisch aufgearbeitet. So untersuchen zum Beispiel die Historiker Silke Fehlemann und Frank Sparing die Zustände in den Einrichtungen des Landschaftsverbandes Rheinland zwischen 1949 und 1975, in denen Kinder und Jugendliche wie die Patientin H. D. untergebracht waren.

»Gewalt war dort für die Kinder und Jugendlichen ständig präsent«, sagt Fehlemann, die an der TU Dresden lehrt. Extrem schockierend sei auch, dass die jungen Patienten schmerzhafte Diagnoseverfahren erleiden mussten und vielfach durch extrem überdosierte Medikamente ruhiggestellt wurden. »Das hatte Züge kollektiver Vergiftung.«

In den ersten beiden Jahrzehnten nach Kriegsende interessierte sich kaum jemand für die Zustände in den personell oft unterbesetzten psychiatrischen Großanstalten. Erst Ende der 1960er Jahre seien Forderungen nach einer Reform der Psychiatrie aufgekommen, sagt Franz-Werner Kersting vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster, der über die Entwicklung der psychiatrischen Anstalten forscht. »Die Reform der Psychiatrie wird zum Gegenstand einer sozialen Bewegung. Sie ist ebenso wie die Frauen- und Ökologiebewegung Ergebnis dieser Auf- und Umbruchphase«, ist er überzeugt.

Die Kritik an autoritären Strukturen und die gewachsene Sensibilität für Menschenrechte habe Ende der 60er Jahre auch die menschenunwürdigen Zustände in den Psychiatrien in den öffentlichen Fokus gerückt. »Die psychiatrischen Anstalten repräsentierten für viele junge Leute der 68er-Bewegung die nationalsozialistischen Altlasten«, sagt Kersting. Sie betrachteten die Einrichtungen als Institutionen, die Menschen nicht heilen, sondern sie überhaupt erst krank machen.

Als extreme Variante dieser Kritik entstand eine Anti-Psychiatrie-Bewegung, die diese Kliniken komplett abschaffen wollte. Bundesweit bildeten sich entsprechende Initiativen. Die bekannteste war das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) an der Universität Heidelberg. Dessen Mitglieder vertraten die These, dass psychische Leiden Folge eines kranken kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems seien.

Doch der Ruf nach einer grundlegenden Reform der Psychiatrie blieb keine Sache kapitalismuskritischer Initiativen. Schon 1969 forderte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in seiner Regierungserklärung mehr Solidarität mit körperlich und geistig behinderten Menschen. 1971 wurde ein Expertenrat eingesetzt, die sogenannte Psychiatrie-Enquête. Ihr 1975 vorgelegter Abschlussbericht bedeutete einen Paradigmenwechsel in der Behandlung psychisch kranker Menschen, sagt Kersting.

Das Wegsperren psychisch Kranker in große Anstalten wurde danach weitgehend aufgegeben. Stattdessen war das Ziel nun eine gemeindenahe Versorgung mit all den Angeboten, die heute selbstverständlich erscheinen. So bekamen Allgemeinkrankenhäuser psychiatrische Abteilungen. Patienten konnten sich auch bei niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten behandeln lassen, es entstanden Einrichtungen wie Tages- und Nachtkliniken. An die Stelle des Ruhigstellens trat ein neuer Behandlungsansatz, der auf die Therapie und Rehabilitation der Kranken abzielte.

Die Reform der Psychiatrie sei ein fortlaufender Prozess, der noch nicht abgeschlossen sei, sagt Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Das verdeutlichten auch die nach Protesten wieder entschärften Pläne für das neue Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz in Bayern, die eine Speicherung der Daten betroffener Patienten vorsahen. epd/nd

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