Taschenrechner statt Stethoskop

Aktive aus der Pflege und professionelle Schauspieler klagen in einem fiktiven Tribunal das Gesundheitssystem an

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist stickig in dem kleinen Raum in der »Fabrik Osloer Straße«, einem Kultur- und Sozialzentrum in Berlin- Mitte. Der Name »Flugwerk« scheint nicht nur angesichts der Größe unpassend, es ist ein heller und freundlicher Ort, an dem Volker Lösch die Proben für sein neues Theaterstück »Das Gesundheitstribunal« abhält. Vor einer breiten Fensterfront stehen sechs Menschen auf Stühlen und rufen im Chor: »Die Pflegeleistungen, die wir täglich erbringen, sind in den Fallpauschalen nicht abgebildet!« Immer und immer wieder wiederholen sie ihre Anklage, so lange bis der Regisseur zufrieden ist.

Der hagere 55-Jährige macht mit seinem schwarzen Anzug und den rigorosen Anweisungen, mit denen er die Darsteller*innen unterbricht, einen strengen Eindruck. Das muss er auch, denn noch sitzen längst nicht alle Bewegungen und auch von Textsicherheit sind einige noch weit entfernt. Kein Wunder, nur zwei Wochen hatten Lösch und seine Truppe Zeit für die Proben für das Theaterstück, das an diesem Donnerstag seine Premiere feiert. Nicht viel, wenn man bedenkt, dass dabei nicht nur professionelle Schauspieler*innen mitwirken, sondern auch Aktive aus der Pflege ihr Theaterdebüt geben.

»Die Theatralisierung von sozialen Inhalten ist oft sehr dilettantisch«, erklärt der erfahrene Regisseur, selbst langjähriger politischer Aktivist, seine Beweggründe für die Inszenierung. Das wollte er ändern, also konzipierte er seine Kritik an der Ökonomisierung des Gesundheitssystems als fiktives Tribunal, bei dem beide Seiten angehört werden. Am Ende entscheidet das Publikum: weiter auf dem Weg des unternehmerischen Krankenhauses oder radikal umsteuern?

»Das Ziel ist, eine Debatte anzustoßen und die Leute zu einer Haltung kommen zu lassen«, sagt Lösch im Gespräch mit »nd«. Im besten Fall käme das Publikum zu der Entscheidung, das aktuelle System abzuschaffen. »Wie kann es sein, dass die Mehrheit der Menschen denkt, dass das Gesundheitssystem falsch ist, sie es aber trotzdem beibehalten will?« Diesem »phlegmatischen Einverständnis mit etwas, das man gar nicht haben will«, will Lösch etwas entgegensetzen.

In der Probe geht es mittlerweile hoch her, beide Seiten tragen in Theatermanier ihre Argumente vor. Während die Befürworter*innen die ökonomischen Vorteile der Reformen der letzten 30 Jahre hervorheben, berichten die Pfleger*innen von chronischem Stress, Dauerdruck und Zeitmangel zulasten der Patient*innen. Die Folge: Überarbeitung und Überforderung des Pflegepersonals sowie eine dementsprechend unzureichende Patient*innenversorgung.

Das Stück wirkt auch deshalb so lebensnah, weil in die Texte die Erfahrungen der mitwirkenden Pflegekräfte eingeflossen sind. Wie die von Käte Kalhorn. Seit zwei Jahren macht sie eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin am St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin. »Das größte Problem ist der Personalmangel«, findet die 22-Jährige. »Es ist oft keine Zeit für eine ordentliche Anleitung. Dann startet man in den Beruf mit Fehlern, weniger Freude und mehr Stress.«

Überlastung und Dauerstress werden laut einer aktuellen DGB-Umfrage zunehmend zum Problem. 80 Prozent der Krankenpfleger*innen gaben an, sie müssten ihre Arbeit häufig in Hetze erledigen. Fast jede zweite Pflegekraft kann ihr Pensum nur bewältigen, indem sie Abstriche bei der Qualität ihrer Arbeit macht. Diese belastenden Arbeitsbedingungen führen zusammen mit der niedrigen Entlohnung dazu, dass sieben von zehn Pflegekräften erwarten, dass sie ihren Job nicht bis zur Rente machen können.

Für Käte Kalhorn ist es dennoch ihr Traumberuf. »Vielen ist gar nicht bewusst, wie vielfältig der Beruf ist. Man kann zahlreiche Weiter- oder Fachausbildungen machen und sich in verschiedensten Richtungen spezialisieren«, sagt die gebürtige Brandenburgerin. Das aktuelle System biete jedoch zu wenig Anreize, in die Pflege zu gehen. »Es wird zu wenig für den Nachwuchs getan.«

Umso wichtiger findet sie es, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Auch deshalb macht sie bei dem Stück mit und natürlich, weil es Spaß macht, sagt Kalhorn, die auch in ihrer Freizeit gerne Theater spielen würde, wegen der vielen Arbeit jedoch nicht dazu kommt. »So kann ich Beruf und Theater miteinander verbinden.« Neben Arbeit, Schule und Theaterproben engagiert sich die 22-Jährige noch beim »Walk of Care«, bei dem sie und ihre Kolleg*innen am Tag der Pflegenden für bessere Arbeitsbedingungen, einen gesetzlich festgelegten Personalschlüssel, verpflichtende Weiterbildungen sowie mehr Zeit für gute Ausbildung auf die Straße gehen.

Durch den Einzug betriebswirtschaftlicher Kriterien ins Gesundheitssystem, das Krankenhäuser dazu zwingt, effizient und gewinnbringend zu wirtschaften, bleibt oft keine Zeit für ausführliche Anleitung. Stattdessen werden Azubis als reguläre Arbeitskräfte ausgebeutet. Genau solche Missstände prangert das Gesundheitstribunal an: »Es kann nicht sein, dass mit der Gesundheit von Menschen Geld verdient wird«, kritisiert Volker Lösch. Statt die Menschen gesund zu machen, führe das neoliberale System dazu, dass sie unnötig operiert würden, nur weil es Geld bringt. »Dieses System ist gescheitert muss radikal infrage gestellt werden.«

Genau das will Lösch mit seiner »Mischform aus politischem Aktivismus und professionellem Theater« erreichen. Das Publikum bei der Premiere im Hof der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die das Theaterstück im Rahmen ihrer dreitägigen Zukunftstagung »über:morgen« aufführt, dürfte geneigt sein, ihm zuzustimmen. Lösch will jedoch auch die Menschen jenseits des linken Publikums erreichen. Noch ist unklar, wie es weitergeht, am liebsten würde Lösch das Stück als mobiles Format fortführen und auch in wohlhabenderen Gebieten wie in Zehlendorf aufführen. »Mal sehen, zu welchem Urteil das Publikum dort am Ende kommen würde«, schmunzelt er.

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