Der erotische Handschuh

Max Klinger: Wiederentdeckte Modernität im Jubiläumsjahr

  • Martina Jammers
  • Lesedauer: 6 Min.
Bei der Eröffnung des Leipziger Museumsneubaus im Herbst 2004 erhielt er die Weihe des Hauses: Klingers Beethoven beherrscht seither als energischer Prometheus auf reich dekoriertem Thron einen eigenen Raum. Mehr als zehn Jahre benötigte der Bildhauer für dieses Monumentalwerk aus verschiedenen kostbaren Steinarten. Er stellte Beethoven mit nacktem Oberkörper dar, so wie es in der Antike geläufig war. Bei der erstmaligen Präsentation der imposanten Skulptur 1902 in der Wiener Secession erntete Klinger vornehmlich Spott, sein Werk wurde als degoutant empfunden. Erst Jahre später konnte Klinger seiner Heimatstadt Leipzig den Beethoven verkaufen. Fortan galt dieser als Inbegriff des heroischen Denkmals, das den Komponisten zeigt, der sich kraft seiner schöpferischen Leistung zu den Göttern hinaufschwingt. Die Rezeptionsgeschichte spiegelt Klingers schwankende Akzeptanz beim Publikum. Um die Jahrhundertwende zählte Klinger zu den bedeutendsten deutschen Künstlern, gleichermaßen hervorgetreten als Maler, Plastiker - und vor allem als begnadeter Graphiker. Nach seinem Tode 1920 geriet er rasch in Vergessenheit, wozu auch die Nationalsozialisten beitrugen, die posthum seine offensive Körperlichkeit als »arisch-heroisch« für sich reklamierten. Erst um 1970 entriss man ihn dem Dornröschenschlaf: jenen vermeintlich allzu Romantischen und Bildungslastigen, entdeckte seine überraschende Modernität. Für Giorgio de Chirico war es bereits 1920 offensichtlich: »Klinger war der moderne Künstler schlechthin. Modern nicht in dem Sinne, den man heute dem Begriff gibt, sondern im Sinne eines gewissenhaften Mannes, der das Erbe an Kunst und Denken aus Jahrhunderten und aber Jahrhunderten achtet, der wachen Auges in die Vergangenheit, in die Gegenwart und in sich selber blickt.« An eine solche Würdigung knüpft das Leipziger Museum der bildenden Künste an und demonstriert Klingers enorme Wirkung auf so unterschiedliche Künstler wie Edvard Munch, Käthe Kollwitz, Max Beckmann, oder Max Ernst. Rund 300 Werke - Gemälde, Graphiken und Skulpturen - von mehr als 40 Künstlern sind zu sehen. In sechs Kapiteln werden die Bezüge hergestellt: oftmals schlagend, mitunter nicht ganz so zwingend. Erstmals seit der Eröffnung des Museumsneubaus wird damit in Leipzig die gesamte Wechselausstellungsfläche bespielt, wozu sich noch die drei ständigen Klinger-Säle gesellen. Der von den furiosen Bernstein-Blicken der Kassandra und Salomé umwitterte Beethoven wäre wie die weiblichen Büsten zu empfindlich für einen Transport ins Untergeschoss gewesen. Dies ist bedauerlich, denn ohne dieses Trio, aber auch ohne seine spektakuläre »Kreuzigung« mit nacktem Christus bleibt das Bild des Malers und Plastikers Klinger innerhalb des Rundgangs zu blass. Umso überzeugender ist Klingers grafisches Genie, in das der Besucher als erstes eintaucht. Dies blieb auch den Eltern nicht verborgen, die den Sohn nicht auf die Nachfolge des Seifenfabrikanten verpflichteten, sondern in seinem Zeichentalent nach Kräften förderten. Mit seinem amourösen »Handschuh«-Zyklus (1881) reüssierte er bereits als Vierundzwanzigjähriger. Der verlorene Handschuh einer schönen Rollschuhläuferin löst eine Reaktionskette aus, die nicht stringent erzählt wird, vielmehr einer surrealen Traumlogik folgt - ein Markenzeichen von Klingers Grafikzyklen. Wie ein Fetisch versetzt der Handschuh seinen Entdecker in extreme psychische Zustände. Als sich das Fundstück zu monströser Größe aufbläht, raubt es zunächst den Schlaf, wird sodann von einem echsenartigen Vogel entführt. Zwei Arme recken sich hilflos aus zerbrochenen Fensterscheiben und bezeugen Klingers intime Kenntnis von Goyas Schreckensszenarien. Im Schlussblatt »Amor« liegt die langfingrige Galanterieware erschlafft vor dem geflügelten Götterboten mit seinen niedergestreckten Waffen: das Ende einer großen Illusion. Dass Klinger mit solchen Bildfolgen Freuds Psychologie des Traums um fast zwanzig Jahre vorweggenommen hat, ist schon öfter bemerkt worden. Dass seine einprägsamen Konstellationen indes zu Schlüsselwerken der Moderne avancierten, führt die Leipziger Ausstellung eindrucksvoll vor. Max Ernst fühlte sich von Klingers Radierungen »insbesondere in seinen Drucken mit oft alptraumhafter Thematik erstmals zum Stil meiner eigenen Collagen angeregt.« Auch Alfred Kubin erlebte den »Handschuh«-Zyklus als Initiation. Am greifbarsten ist der Einfluss von Klingers Grafik zweifelsohne bei Richard Müller (1874-1954): In der Kreidezeichnung »Alpdrücken« lastet eine riesige Faust schwer auf einem unruhig Schlafenden, auf den zu allem Überfluss noch ein garstiger Käfer zukrabbelt: eine kafkaeske Situation avant la lettre. Die mythischen Vogelwesen und elegischen Damen von Max Ernst oder Giorgio de Chirico erscheinen wie ein Déjà-vu mit bekannten Gesichtern und gemischten Gefühlen aus Klingers »Griffelkunst«, wie der Meister sie stolz taufte. Mitunter vergucken sich die Kollegen in Details. So überträgt de Chirico die prominente Klinkerwand von Klingers »Überfall an der Mauer« in seine wunderbar verrätselte »Melancholie der Ariadne« und kommentiert das Vorbild: »Die Mauer macht den Eindruck, als bedeute sie die Grenze der Welt. Das Gefühl der Langeweile und des unendlichen Staunens, die Frage, die in der Linie des Horizonts steht, dies alles durchdringt das ganze Bild.« Alles andere als Langeweile kommt in der Sektion »Das Unbehagen am Weibe« auf. Der menschliche Körper war für den Künstler »Kern und Mittelpunkt aller Kunst«. Er postulierte eine »Körperschönheit«, der man ihre Gegenwart ansehen sollte. Klingers Schwäche für starke Frauen und laszive Verführerinnen findet einen deutlichen Niederschlag in Edvard Munchs »Madonna« - eine Ikone männlicher Angst- und Sehnsuchtsphantasien. Die Inspiration für den provokanten Bild-rahmen mit Fötus- und Spermienmotiv verdankt er Klingers Blatt »Erwachen«, welches erstmals die Darstellung eines Embryos als beklemmende Vision in die künstlerische Vorstellungswelt einführte. Das Aufgreifen sozialer Fragen in Klingers frühen Grafikzyklen berührte eine ganze Künstlergeneration. Sein Augenmerk gilt den Lebensbedingungen der Unterschicht: Armut, Prostitution, ungewollte Schwangerschaft. Käthe Kollwitz bezeichnete seine drei Blätter »Eine Mutter« (1883) als ihre geistige wie künstlerische Geburt. »Alle Register des Lebens zog er auf, das gewaltige herrliche und traurige Leben fasste er und deutete er uns.« Sowohl in ihrem Zyklus zum »Weberaufstand« wie auch im »Bauernkrieg«, in denen sie den Spielraum auslotet zwischen sozialem Thema und Allegorie, lassen sich deutliche Weiterentwicklungen Klingerscher Bildfindungen ausmachen. Beinahe zum Plagiat geraten diese bei Hans Baluscheks »Selbstmörderin« (1891), das fast wortwörtlich »Eine Mutter III« zitiert. Klinger hatte sich hierzu tief beeindruckt gezeigt vom realen Psychodrama einer Berliner Schwurgerichtsverhandlung. Auch Baluscheks »Toter auf der Landstraße« (1922) spiegelt eindeutig das Blatt »Vom Tode«, charakterisiert das Opfer aber im Unterschied zur Vorlage als Landstreicher. Und wie ist es um Klingers Wirkung auf heutige Künstler bestellt? In Leipzig sind bemerkenswerte Reflexe bei Antipoden wie Neo Rauch und Michael Triegel zu entdecken. Angesichts der exzellenten Radierkunst gerät der 1968 geborene Triegel ins Schwärmen: »Was Klinger gerade mit einer Nadel für Grautöne zu schaffen in der Lage ist, ist schon phänomenal. Gerade solch silbrige Töne, wenn er Haut darzustellen versucht, die beginnen zu glänzen und zu schimmern.«

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