Amanda Knox: »Es kam ihnen nur auf die Story an«

Amanda Knox wurde vom Boulevard als Mörderin verkauft. Vier Jahre saß sie unschuldig im Gefängnis. Ein Gespräch über Medienversagen und Sexismus

  • Interview: Klaus Ungerer
  • Lesedauer: 8 Min.
»Ich verwandelte mich von einer sehr kontaktfreudigen, fröhlichen, freigeistigen Person in eine sehr introvertierte, traurige, vorsichtige Person.«
»Ich verwandelte mich von einer sehr kontaktfreudigen, fröhlichen, freigeistigen Person in eine sehr introvertierte, traurige, vorsichtige Person.«

Vor 18 Jahren gingen Sie als 20-jährige Studentin auf ihr erstes großes Abenteuer: Auslandsstudium in Italien. In Perugia. Wer war Amanda Knox damals?

Ich war belesen, sportlich, schrullig, ziemlich behütet und wollte den Leuten gefallen. Ich liebte Harry Potter, Yoga und die Natur. Durch den Auslandsaufenthalt wollte ich so gut in Italienisch werden, dass ich Übersetzerin werden könnte, idealerweise für Lyrik und Literatur. Ich liebte andere Sprachen und Kulturen und wollte gern die Welt bereisen.

Am 1. November 2007 wurde Ihre Mitbewohnerin Meredith Kercher, eine Studentin aus England, Opfer eines Verbrechens. Ein Mann, der bereits wegen Einbruchs und Gewalt gegen Frauen vorbestraft war, überraschte Meredith in Ihrer Studentenwohnung und tötete sie brutal. Obwohl es sich ganz offensichtlich um das Verbrechen eines einschlägig bekannten Mannes handelte, wurden Sie, die junge Studentin aus den USA, und ihr italienischer Freund Raffaele Sollecito zu Hauptverdächtigen gemacht. Die Ermittlungsbehörden erfanden die Geschichte einer bizarren Sexorgie, die ausgeartet sei. Welche Vorurteile spielten dabei eine Rolle, welche Wahrnehmungsverzerrungen?

Polizei und die Staatsanwaltschaft haben die Tatortuntersuchung in den ersten Tagen der Ermittlungen sehr übereilt durchgeführt. Noch bevor sie die forensischen Beweise vom Tatort analysiert hatten, hatten sie schon falsche Schlüsse gezogen, die dann den Verlauf ihrer Ermittlungen bestimmten. Mit anderen Worten: Sie entwickelten einen Tunnelblick. Es half auch nicht unbedingt, dass ich Ausländerin war und kein fließendes Italienisch sprach. Selbst nachdem der Mörder anhand seiner DNA, Fingerabdrücke und Fußabdrücke eindeutig identifiziert war, haben Polizei und Staatsanwaltschaft weiterhin ein Verfahren gegen mich verfolgt und haben Entlastungsbeweise für mich und meinen Freund ignoriert.

Der Staatsanwalt Giuliano Mignini soll das Verbrechen sogar mit Halloween und Hexerei in Verbindung gebracht haben. Hatten Sie das Gefühl, dass man Sie für eine Art Hexe hielt?

Der Staatsanwalt hatte in der Vergangenheit Fälle untersucht, die seiner Meinung nach Elemente von Verschwörung und Okkultismus enthielten. Vor Gericht wurde ich als eine durchtriebene, laszive Teufelin dargestellt, die das Böse um des Bösen willen tat.

Viele Medien spielten von Anfang an mit, weltweit. Von den Ermittlungsbehörden mit Informationen gefüttert, verbreiteten sie das Bild von der eiskalten, perversen Killerin, die am Tatort mit ihrem Freund knutscht...

Es hat den Anschein, dass die Medien eher motiviert waren, eine Skandalstory zu veröffentlichen, als zu recherchieren und die Wahrheit zu berichten. Während des Gerichtsverfahrens haben dann einige Journalisten Verdacht geschöpft – als die Beweise, die meine Beteiligung an dem Verbrechen belegen sollten, nicht auftauchten. Aber andere blieben der Geschichte treu, die sich am besten verkaufte: das Sexmonster von nebenan.

Die Horrorgeschichte vom Killer-Sexmonster wurde bereitwillig abgeschrieben und verbreitet, sie war weltweit die Sensation des Tages. Wann wurde Ihnen klar, wie groß diese Geschichte war?

Da ich innerhalb weniger Tage verhaftet und inhaftiert wurde, hatte ich kaum Kontakt zur Außenwelt. Ich glaube, ich habe erst nach meiner Freilassung wirklich begriffen, wie groß die Geschichte war – als ich selbst mitverfolgen konnte, wie alle Medien auf der Welt über den Fall berichteten und ich jahrelang von Paparazzi verfolgt wurde.

Zur Person

Amanda Knox, geboren 1987 in Seattle, wurde 2007 schlagartig weltbekannt, als italienische Ermittlungsbehörden sie zur Hauptverdächtigen im Mordfall Meredith Kercher machten. Nach vier Jahren in Haft und insgesamt vier Prozessen wurde sie 2015 endgültig freigesprochen. Knox arbeitet heutzutage als Journalistin und Podcasterin. Ihr Fall wurde wiederholt in Fiktionalisierungen und Dokumentationen aufbereitet. Auf Disney+ läuft zurzeit die Miniserie »The Twisted Tale of Amanda Knox«, an der sie als Produzentin beteiligt war.

Hatten Sie denn wenigstens vor Gericht das Gefühl, dass eine Suche nach der Wahrheit stattfindet?

Die Argumente, die von der Staatsanwaltschaft vorgetragen wurden, und die Art und Weise, wie ich dargestellt wurde, waren völlig losgelöst von der Realität. Aber viele Menschen waren davon fasziniert, weil es ihre Ängste und Fantasien ansprach. Besonders nach meiner Verurteilung wurde mir klar, dass die Wahrheit den meisten Leuten egal war. Es kam ihnen nur auf die Story an.

Nach dem Urteil kam es schnell zu einem ersten Berufungsverfahren, in dem Sie dann freigesprochen wurden. Dabei kam es zu einer bemerkenswerten Szene. Sie waren so überwältigt vom Freispruch, dass Sie in Tränen ausbrachen. Die Justizbeamten dachten, Sie hätten das Urteil falsch verstanden und würden deswegen weinen. Hat eine kulturell bedingte Wahrnehmungsverzerrung den Fall von Anfang an beeinflusst?

Das ist ein gutes Beispiel für ein kulturelles Missverständnis in diesem Fall. Es gab auch viele Beispiele für rein sprachliche Missverständnisse. Zum Beispiel, wie die Polizei meine SMS an meinen Chef während meines Verhörs auslegte. Oder die Tatsache, dass ich, als Merediths Leiche entdeckt wurde, sie nicht gesehen habe und alle auf Italienisch schrien und ich lange brauchte, um zu verstehen, was los war. Das bedeutete, dass ich mich nicht so verhielt wie alle anderen, insbesondere die anderen jungen Frauen. Viele Menschen übersehen diesen Aspekt des Falls: Wer wusste was wann und wer verstand was wann? Das hatte tatsächlich eine starken Einfluss darauf, wie die Menschen reagierten, und das war einer der Hauptgründe dafür, dass die Ermittler mein Verhalten falsch aufgefasst haben.

Glauben Sie, dass alles anders gelaufen wäre, wenn Sie von Anfang an eher so reagiert hätten, wie das klassische »weibliche« Rollenbild es für Frauen vorsieht, am liebsten hilflos und hysterisch weinend?

Ich glaube tatsächlich, dass das eine wichtige Rolle gespielt hat. Ich habe viel von meinem Verhalten von meiner Familie geerbt, die ursprünglich deutsch ist. Wir bleiben in schwierigen und schockierenden Situationen tendenziell ruhiger, und das wurde von den italienischen Ermittlern falsch interpretiert.

Gab es im Knast so etwas wie Solidarität unter den Gefangenen?

Da ich die »berühmte« Insassin war, waren die meisten anderen Insassinnen sehr neugierig auf mich und den Fall, aber ich habe nicht darüber gesprochen. Trotzdem glaubten viele von ihnen und sogar einige Wärter an meine Unschuld. Sie jubelten mir zu, als ich freikam.

Wie hat die Zeit im Gefängnis Sie als Person verändert?

Ich musste sehr schnell erwachsen werden, und das in einer sehr harten Umgebung. Ich verwandelte mich von einer sehr kontaktfreudigen, fröhlichen, freigeistigen Person in eine sehr introvertierte, traurige, vorsichtige Person. Ich habe über Suizid nachgedacht. Aber ich habe auch gelernt, mich auf mich selbst und meine Lieben zu verlassen. Jetzt bin ich eine Mischung aus all diesen Dingen – kontaktfreudig und introvertiert, fröhlich und traurig, freigeistig und vorsichtig.

Weltweit erfanden die Medien ihre eigene »Amanda Knox«. In Deutschland beschloss etwa der »Spiegel«, Sie gewohnheitsmäßig als den »Engel mit den Eisaugen« zu bezeichnen. Man wurde konditioniert, bei jedem Anblick eines Amanda-Knox-Fotos zu denken: »Oh, da ist sie wieder, diese eiskalte, perverse Killerin aus Amerika.« Haben Sie diesen Blick in den Gesichtern der Menschen gesehen?

Ich bewege mich durch die Welt in dem Bewusstsein, dass viele Menschen bereits eine starke Meinung über mich haben, und das kann sehr entfremdend sein. Viele Jahre lang habe ich mich – auch in Freiheit – sehr isoliert und allein gefühlt. Ich hatte Angst, neue Leute kennenzulernen oder mit Fremden zusammen zu sein. Mit den Jahren habe ich mich an dieses Gefühl gewöhnt, aber es ist mir immer noch unangenehm. Glücklicherweise sind die meisten Menschen, die mich in der Öffentlichkeit erkennen und mich ansprechen, nett zu mir.

Hat sich eigentlich mal jemand entschuldigt?

Kein Journalist, Polizist oder Staatsanwalt, der an diesem Fall beteiligt war, hat sich jemals bei mir entschuldigt. Allerdings haben sich einige Menschen aus der Öffentlichkeit, die früher von meiner Schuld überzeugt waren, bei mir entschuldigt. Und dafür bin ich ihnen sehr dankbar.

Zurzeit läuft bei Disney+ die Miniserie »The Twisted Tale of Amanda Knox«, an der sie als Produzentin beteiligt waren. Wie fühlt es sich an, den dunkelsten Teil des eigenen Lebens als Serie zu sehen?

Es war für mich sehr heilsam zu lernen, wie ich das, was Meredith und mir widerfahren ist, in Worte fassen kann. Ich bin all meinen kreativen Partnern bei diesem Projekt sehr dankbar dafür, dass sie mich mit Respekt behandelt haben. Dass sie ein Stück produziert haben, durch das ich mich so gesehen fühle, wie ich wirklich bin.

Wäre der Mörder an einem anderen Tag gekommen, so hätte es Sie selbst treffen können, und Meredith Kercher wäre noch am Leben. Haben Sie manchmal Schuldgefühle?

Von uns beiden habe nur ich überlebt, um davon zu erzählen. Manchmal habe ich Schuldgefühle als Überlebende, aber ich bin auch dankbar, dass ich noch am Leben bin und Ziele habe, denn man kann das Leben nicht als selbstverständlich betrachten.

Sie haben mittlerweile zwei kleine Kinder. Sie haben einmal gesagt, Mutter zu werden, habe eine Reihe neuer Ängste und Traumata ausgelöst ...

Mein ganzes Erwachsenenleben lang hatte ich das Gefühl, im Schatten des Schlimmsten zu leben, was mir und Meredith je widerfahren ist. Ich habe das Stigma, das Mädchen zu sein, das für eine Mörderin gehalten wurde. Als ich schwanger wurde, hatte ich plötzlich den Wunsch nach Heilung. Weil ich mein Trauma nicht an meine Tochter weitergeben wollte. Ich wollte, dass meine Tochter in einer Welt aufwächst, die zu ihr freundlicher ist, als sie zu mir war.

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Irgendwann werden Ihre Kinder sich mit einem Mord auseinandersetzen müssen, der lange vor ihrer Geburt in einem anderen Teil der Welt passierte. Wie werden Sie sie darauf vorbereiten?

Meine vierjährige Tochter hat bereits begonnen, Fragen zu stellen, und ich kann nur versuchen, ihr auf altersgerechte Weise ehrlich zu antworten.

Sie sind ein Mensch, der auch gern lacht. Oft lachen Sie aus einem gesunden Fatalismus oder einem Sinn fur Absurditäten. Sie saßen vier Jahren unschuldig im Gefängnis in Italien. Erinnern Sie sich daran, wann Sie zum ersten Mal wieder lachen konnten?

Humor ist für mich schon immer ein Ventil zum Abbau von Spannungen, und zum selben Zweck habe ich auch gerne gesungen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich wieder lachen und Witze machen konnte, aber es ging schneller, als man denken würde. Entweder man lacht oder man weint. Ich mache beides.

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