Der Wunsch zu leben

In seinen Chansons ging es um die Liebe, aber auch um Ausgegrenzte und Außenseiter. Ein Nachruf auf Charles Aznavour

  • Jonas Engelmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Weißt du, was mir am meisten Schmerz verursacht?«, fragt Charles Aznavour in Atom Egoyans Spielfilm »Ararat« einen jungen, aus Armenien stammenden Kanadier. Und er gibt auch gleich selbst die Antwort: »Nicht die Menschen, die wir verloren haben, oder das Land. Sondern zu wissen, dass wir so sehr gehasst werden.« Aznavour spielt in dem Film den Regisseur Edouard Saroyan, der in Kanada an einem Spielfilm über den Völkermord an den Armeniern durch die Türkei arbeitet - ein Lebensthema des französischen Chansonniers, der 1924 als Schahnur Waghinak Asnawurjan in Paris zur Welt gekommen ist. Seine Eltern Mischa und Knar Asnawurjan hatten 1915 durch den Genozid fast ihre gesamte Familie verloren. Sie selbst konnten nach Frankreich fliehen. Während der deutschen Besatzung versteckten sie mit Unterstützung des mittlerweile Jugendlichen Charles Juden in ihrer Wohnung, wofür der Staat Israel sie 2017 posthum auszeichnete. Charles Aznavour nahm die Ehrungen entgegen und betonte in einem Interview, wie sehr ihn die gemeinsame Erfahrung der Verfolgung geprägt habe: »Ich bezeichne mich als den einzigen aschkenasischen Goi; in meiner Kindheit und auch später waren alle meine Freunde Juden. Denn ihre Eltern waren Migranten, wie die Armenier.«

Immer wieder kam der Chansonnier, Schauspieler und Komponist Charles Aznavour, auch als er längt zum Weltstar aufgestiegen war, auf die Außenseiter und Ausgegrenzten der Gesellschaft zu sprechen, etwa in seiner Homosexuellen-Hymne »Comme ils disent«: »Wenn es auch mancher übelnimmt / Mich lässt es kalt, weil es ja stimmt / Ich bin ein Homo, wie sie sagen.« Und auch der Genozid an den Armeniern fand sich als Thema in seinen Texten wieder, 1975 komponierte er den Titel »Ils sont tombés«: »Sie fielen, ohne zu wissen warum / Männer, Frauen und Kinder, deren einziger Wunsch war zu leben.« In den meisten seiner über 1000 Chansons geht es jedoch um die Liebe und alle damit verbundenen Gefühle, vom Liebeskummer über postkoitale Erschöpfungszustände bis hin zu Depressionen und Hass.

Die Karriere von Charles Aznavour begann 1946, als er Edith Piaf kennenlernte. Mit der Tochter eines Schlangenmenschen und einer Halbitalienerin teilte er die Außenseiterstellung in der französischen Nachkriegsgesellschaft; sie begannen gemeinsam zu komponieren, und Piaf nahm den »kleinen Armenier« mit auf Tournee. Es folgten über 100 Alben und 200 Millionen verkaufte Schallplatten in fünf Sprachen, ein Stern auf dem Hollywood Walk of Fame und eine ebenfalls mehrere Jahrzehnte und 70 Filme umspannende Karriere als Schauspieler. Vor allem seine Rolle als der depressive Pianist Edouard Saroyan in François Truffauts Film »Schießen Sie auf den Pianisten« machte ihn 1959 weltweit als Darsteller bekannt. In seinem letzten Lebensjahrzehnt engagierte er sich gegen den rechtsextremen Front National und den wachsenden Antisemitismus in Frankreich, wurde 2008 armenischer Staatsbürger und Sonderbotschafter des Landes in der Schweiz und war von 2013 bis 2018 praktisch ununterbrochen auf Welttournee.

Er hasse es zu sterben, hat er vor wenigen Jahren in einem Interview gesagt, bis zuletzt hat er nach diesem Motto gelebt - noch zwei Wochen vor seinem Tod stand er im September 2018 in Osaka auf der Bühne. Am 1. Oktober ist Schahnur Waghinak Asnawurjan im Alter von 94 Jahren gestorben.

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