• Kultur
  • Buchmesse Frankfurt am Main

Die Kinder der Agenten

Michael Ondaatje führt spannungsvoll in eine Welt voller Geheimnisse

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

»Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.« Die Eltern sagten, dass der Vater in Singapur für ein Jahr die dortige Unilever-Filiale leiten und die Mutter ihn begleiten soll. Nathaniel, der damals 14-jährige Erzähler in Michael Ondaatjes Roman, und seine ein Jahr ältere Schwester Rachel bezweifeln das. Aber den beiden bleibt nichts anderes übrig, als das Verschwinden ihrer Eltern hinzunehmen. In einem Internat in der Nähe von London sollen sie ihre Schulzeit verbringen. Nathaniel flieht jedoch nach kurzer Zeit zurück ins Haus seiner Eltern, wo die beiden Männer wohnen, die er und seine Schwester nur den »Falter« und den »Boxer« nennen.

Michael Ondaatje: Kriegslicht. Roman.
A. d. Engl. v. Anna Leube. Hanser, 320 S., geb., 24 €.

Sein Leben lang versucht Michael Ondaatjes Erzähler jene Menschen zu durchschauen, die ihn in seiner Jugend umgaben. In einem kleinen Haus, zwei Stunden von London entfernt, schreibt er rückblickend auf, was er erlebt hat und was er herausfinden konnte. Das Verschwinden der Eltern war zwar keine Katastrophe für ihn und seine Schwester, aber die Abreise bedrückte sie, zumal die Eltern nach einem Jahr nicht zurückkehrten. Während Rachel schnell auf Distanz geht und nichts mehr von den Eltern hören will, versucht Nathaniel mehr herauszufinden. Der »Falter« scheint einem normalen Beruf nachzugehen; er arbeitet in einem großen Hotel. Der »Boxer« ist ein Schmuggler. Er bringt Windhunde mit gefälschten Papieren nach England. Mit ihnen sollen die Ergebnisse von Hunderennen manipuliert werden. Nathaniel beginnt, dem »Boxer« bei den Transporten zu helfen. Er spürt, dass der Mann noch anderes verbirgt.

Ondaatjes Erzähler gibt nur so viel preis, wie der Leser braucht, um auch noch den Rest erfahren zu wollen. Das ist eine große, oft unterschätzte Kunst, die Ondaatje perfekt beherrscht. »Kriegslicht« lässt den Leser bis zur letzten Seite nicht mehr los. Der Zweite Weltkrieg ist zwar offiziell beendet, aber es gibt immer noch Guerillagruppen, die in Europa weiterkämpfen. Außerdem zieht der Kalte Krieg am Horizont herauf. Nach und nach erfährt man, dass viele der Menschen, die Nathaniel und Rachel umgaben, für den Geheimdienst gearbeitet haben. Auch seine Eltern scheinen Agenten gewesen zu sein. Aber selbst als Nathaniel ebenfalls beim Geheimdienst zu arbeiten beginnt, findet er im Archiv zunächst nichts über sie. Und die, die etwas wissen müssten, schweigen.

Ondaatje, der dieses Jahr als Erster mit dem »Golden Man Booker Price« ausgezeichnet wurde, erzählt von einem extremen Schicksal. Aber in der besonderen Erfahrung, die Nathaniel und Rachel machen, drücken sich Probleme aus, die heute viele haben. In einer Welt, in der alles unsicher zu werden scheint, in der nicht auf einen fest gefügten Glauben oder eine Ideologie zurückgegriffen werden kann, bekommt das Schicksal der Kinder von Geheimagenten etwas Paradigmatisches.

»Wir ordnen unser Leben dank kaum näher ausgeführter Geschichten«, sagt Nathaniel am Ende des Buches. »Als hätten wir uns in einer verwirrenden Umgebung verlaufen und sammelten nun, was unsichtbar und unausgesprochen war.« Die westliche Welt ist heute sicherer und reicher den je. Aber gleichzeitig ist unsere Identität prekärer geworden. Sie besteht aus Fragmenten, die sich aus vielen Erfahrungen und Geschichten zusammensetzen, die wir oft mühsam rekonstruieren müssen. Wie Nathaniel in diesem auch historisch plausiblen, großartigen Roman von Michael Ondaatje.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal