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Anarchie in Archangelsk

Anschlag auf russischen Inlandsgeheimdienst löst Repressionswelle gegen linke Aktivisten aus

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Morgen des 31. Oktober detonierte in der Eingangshalle des regionalen Büros des Inlandsgeheimdienstes FSB in der nordrussischen Hafenstadt Archangelsk eine Bombe. Drei Mitarbeiter wurden schwer verletzt. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen gelang es dem Attentäter, der von Explosion getötet wurde, einen Sprengsatz in das Gebäude zu schmuggeln. Mit Hilfe der Überwachungskameras konnten ihn die Behörden schnell identifizieren. Es handelte sich um den 17-jährigen Berufsschüler Michail Schlobizki. Als Begründung für seine Tat soll Schlobizki die Folter politischer Häftlingen und die Fälschung von Ermittlungsergebnissen durch den Geheimdienst angegeben haben.

Schlobizki bekannte sich im Internet angeblich zum Anarchokommunismus und schrieb nur wenige Stunden vor seiner Tat in einem offenen Kanal des Nachrichtendienstes Telegram über sein Vorhaben. Für sein Profil soll er das Symbol der Roten Armeefraktion benutzt haben, einer seiner Benutzernamen im Internet war Sergei Netschajew, nach dem berüchtigten Revolutionär aus dem 19. Jahrhundert. Konkrete Hinweise auf seine Mitgliedschaft in einer anarchistischen Gruppe oder anderen politischen Organisationen hat es bisher jedoch nicht gegeben.

Für den seit 2012 regierenden Gouverneur der Region Archangelsk, Igor Orlow, scheinen die Schuldigen bereits festzustehen. Am Tag nach dem Anschlag gab er »der Opposition« die Schuld. Prompt antwortete der bekannte liberale Oppositionelle Alexej Nawalnyj per Videoansprache, Orlow möge gefälligst die Wasserleitungen in seiner Region in Schuss bringen beziehungsweise überhaupt erst flächendeckend verlegen, bevor er alle Kritiker als Terrorunterstützer abstempele.

In den vergangenen Monaten wurden gleich mehrere »Terrororganisationen« in Russland aufgedeckt. Doch viele Beobachter kritisieren die Rolle der Provokateure, die zur Gründung der Organisationen scheinbar entschieden beigetragen haben. Im Dezember 2017 wurde die zehnköpfige Gruppe »Neue Herrlichkeit« (Nowoje Welitschije) hochgenommen, die einen Staatsumsturz geplant haben soll. Die Debatte darüber, ob die Geheimdienstmitarbeiter die jungen Leute überhaupt erst auf die Idee gebracht haben, spaltet seitdem die Öffentlichkeit. Erst am 28. Oktober liefen in mehreren Städten Solidaritätskundegebungen für die Beschuldigten.

Der für seine aggressiv-servile Haltung gegenüber dem Kreml bekannte Fernseh- und Radiomoderator Wladimir Solowjew verurteilte die Proteste gegen politisch motivierte Strafverfahren der Gruppe »Neue Herrlichkeit« und bezeichnete die zum Teil minderjährigen Angeklagten als »Terroristen«. Die Verantwortung für das Bombenattentat in Archangelsk sieht er bei den Journalisten, die die Arbeit des FSB attackieren.

Bei den Ermittlungen gegen die angebliche anarchistische Geheimorganisation »Das Netz« (Set), die im Herbst 2017 in Pensa begannen und bald auch in St. Petersburg fortgesetzt wurden, soll es zu zum Einsatz von Folter gekommen sein.

Die Behörden nehmen den Anschlag in Archangelsk zum Anlass, um landesweit gegen linke Organisationen und Aktivisten vorzugehen. Anastasija Malzewa, eine Aktivistin der Einwohnerselbstverwaltung und bekennende Sozialistin aus Perm, einer 1518 Kilometer von Archangelsk entfernten Stadt, war sehr überrascht, als die Mitarbeiter der örtlichen Abteilung des FSB sie zu später Stunde im Zusammenhang mit den Anschlägen befragen wollten. Anschließend berichtete Malzewa dem Nachrichtenportal »Zwezda«, die Geheimdienstmitarbeiter hätten Informationen über Anarchisten in der Stadt verlangt.

Weniger glimpflich kam Wjatscheslaw Lukitschjow, ein 24-jähriger Anarchist aus Kaliningrad, davon. Dieser wurde am 4. November von einer Spezialeinheit der Polizei festgenommen, weil er im Internet das Bekennerschreiben des Archangelsker Attentäters kommentierte haben soll.

Ein dritter aufsehenerregender Fall ereignete sich in Moskau. Seit dem 2. November befindet sich der 14-jährige Schüler Kirill Kuzminkin in Haft. Er soll mit Schlobizki in Kontakt gestanden haben. Offiziellen Angaben zu Folge wurden bei Kuzminkin Materialien für den Bau von Sprengsätzen und - hier geht die Berichterstattung auseinander - eine fast fertige Bombe gefunden. Kuzminkin plante angeblich, den Sprengsatz während des am 4. November stattfindenden nationalistischen »Russischen March« einzusetzen. Das Gericht hat für Kuzminkin eine Haftzeit bis zum 2. Dezember angesetzt.

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