Keine Kraft mehr

Millionen Menschen kommen bei der Betreuung von Angehörigen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.

Sie sind die tragenden Säulen unseres Pflegesystems: die Tochter, die ihre Mutter betreut; der Mann, der seine Frau pflegt; die Familie, in deren Mitte Oma und Opa versorgt werden. Einem Report zufolge, den die Barmer Krankenkasse am Donnerstag in Berlin vorstellte, gibt es in Deutschland rund 2,5 Millionen pflegende Angehörige, davon 1,65 Millionen Frauen. Der größte Teil der über drei Millionen Pflegebedürftigen im Lande wird von ihnen zu Hause gepflegt. Es werden Mahlzeiten zubereitet und verabreicht, Medikamente gegeben, beim An- und Ausziehen und dem Besuch der Toilette geholfen. Die Hilfebedürftigen werden gewaschen, in den Park gefahren, umsorgt und getröstet. Schlafen sie, geht es an den Schriftverkehr mit Kassen oder Ämtern, an Einkäufe oder Besorgungen. Zwölfstundentage sind für pflegende Angehörige keine Seltenheit. Dass sie öfter krank werden als Menschen ohne diese Belastung, kann man sich vorstellen.

Trotz gestiegener finanzieller und fachlicher Unterstützung von Kranken- und Pflegekassen in den vergangenen Jahren können die pflegenden Angehörigen nach wie vor zahlreiche Probleme benennen. An erster Stelle steht dabei die Hilfe im Haushalt, gefolgt vom Wunsch nach emotionalem Beistand, besserer Mobilität und weniger Bürokratie. »Fast 40 Prozent von ihnen fehlt Schlaf, 30 Prozent fühlen sich in ihrer Rolle als Pflegende gefangen, und jedem fünften ist die Pflege eigentlich zu anstrengend«, erfuhr das Team um den Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang von der Universität Bremen, das die Untersuchung für die Barmer, eine der größten gesetzlichen Krankenkassen, vornahm und auswertete. 60 Prozent der pflegenden Angehörigen wünschen sich demnach Unterstützung. Mehr als die Hälfte der befragten 1900 Menschen findet jedoch keine Vertretung. 185 000 Pflegende stehen daher kurz davor, ihre Tätigkeit einzustellen. Dabei sind noch nicht einmal jene mitgezählt, die auf die Frage nach der Zukunft gar nicht geantwortet haben. Das waren immerhin weitere 11,9 Prozent. Fazit der Bremer Forscher: Offenbar ist der »größte Pflegedienst des Landes«, wie Rothgang diese Personengruppe bezeichnet, am Ende seiner Kräfte angelangt.

Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte eine »echte Entlastung« für Angehörige. »Der größte Pflegedienst Deutschlands geht am Stock«, sagte Vorstand Eugen Brysch der Nachrichtenagentur AFP. Die bisherigen Angebote seien bei Weitem nicht ausreichend und liefen oft ins Leere. Besonders treffe es die Hunderttausenden pflegenden Angehörigen, die berufstätig sind. Brysch fordert eine staatlich finanzierte Lohnersatzleistung für Pflegende ähnlich dem Elterngeld. Auch der Sozialverband VdK will etwas für Angehörige tun. Allerdings gebe es in vielen Regionen bereits ein Versorgungsproblem, baut VdK-Präsidentin Verena Bentele vor. »Es gibt einen akuten Handlungsbedarf, wenn Millionen Menschen die Unterstützung bei der Pflege ihrer Angehörigen fehlt«, sagt Pia Zimmermann, Sprecherin für Pflegepolitik der LINKE-Bundstagsfraktion, zum Barmer-Pflegereport 2018. Ihre Partei will deshalb Stärkungsgesetze nicht nur für Pflegekräfte, sondern auch für diejenigen, die 24 Stunden am Tag für ihre Angehörigen da sind. Sie bräuchten eine deutlich bessere Unterstützung, »auch von der Politik«, so Zimmermann.

Die Politik will an diesem Freitag im Bundestag das Pflegepersonalstärkungsgesetz verabschieden, das 13 000 neue Stellen schaffen soll. Die meisten Fachleute halten das für viel zu wenig, von bis zu 100 000 benötigten Stellen sprechen manche. Dennoch könnten bereits diese Pläne die explodierenden Eigenanteile an den Heimkosten für die Bewohner noch mehr in die Höhe treiben und die Alternative für die Pflege in den eigenen vier Wänden aus Kostengründen weiter schmälern.

Die Barmer Krankenkasse hat in einer ersten Reaktion angekündigt, Erleichterungen für ihre pflegenden Angehörigen zu schaffen. So sollen Anträge künftig weniger kompliziert sein und online gestellt werden können. Und die finanziellen Eigenanteile für die Kurzzeitpflege sollen verringert werden, und für Krankenfahrten zum Arzt entfällt die Genehmigung von der Krankenkasse.

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