Dialektik des Handschlags

Seit 1918 gilt die »Tarifautonomie« - manchmal ein zweischneidiges Schwert.

Sie wird häufiger beschworen als gelebt: die Tarifautonomie - das Recht der Gewerkschaften und Kapitalverbände, ohne Staatseinfluss Löhne und Arbeitsbedingungen zu vereinbaren. Hatte Letztere 1918 die Angst vor Enteignung bewogen, Gewerkschaften als Partner anzuerkennen, setzen viele Betriebe heute wieder auf Tariflosigkeit. Immer weniger schließen sich den Kapitalverbänden an oder nutzen die relativ neue OT-Mitgliedschaft - »ohne Tarifbindung«. So tragen Unternehmer entgegen allen Beteuerungen aktiv dazu bei, das Tarifsystem zu perforieren. Offenbar verliert ein Teil des historischen Zweckbündnisses das Interesse an Partnerschaft.

So nehmen Anzahl und Reichweite der Tarifverträge - Gradmesser für funktionierende Tarifautonomie - stetig ab. Binnen zehn Jahren sank die Anzahl der Unternehmen mit Branchentarifvertrag laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) auf aktuell 25 Prozent, 27 im Westen und nur 16 im Osten. 73 Prozent der Betriebe waren 2017 ohne Tarifvertrag, nur 47 Prozent der Beschäftigten genossen den Schutz kollektivvertraglicher Vereinbarungen, die dafür sorgen, dass Wettbewerb nicht zulasten der Arbeitsbedingungen geht. 1996 galt das noch für fast drei Viertel der Beschäftigten. Wer tariflos arbeitet, verdient laut IAB 24 Prozent weniger und arbeitet länger - dennoch schrumpfen die Gewerkschaften. So ist das ständige Reden über Tarifautonomie Zeichen einer Krise. Wortreich wird überdeckt, wie brüchig das sozialpartnerschaftliche Arrangement ist. Besonders gern wird es hochgehalten, wenn staatliche »Einmischung« droht.

Dabei ist Tarifautonomie schon immer relativ. Der Staat setzt nicht nur den Konfliktrahmen, in dem die Interessengegensätze von Kapital und Arbeit ausgetragen werden, er greift selbst direkt ein. In der Nachkriegszeit waren Arbeits- und Sozialgesetze, Vorgaben zu Arbeitsverträgen und Höchstarbeitszeiten eher Ausdruck der Stärke der Gewerkschaften, die Schutzstandards auch politisch durchsetzen konnten. Doch spätestens seit Mitte der 1990er hat sich das Blatt gewendet. Eine Reihe dieser Standards steht von Kapitalseite unter Beschuss. Die wichtigste arbeitsmarktpolitische Neuerung der jüngeren Zeit - der gesetzliche Mindestlohn - war Ausdruck der Unfähigkeit der Gewerkschaften, den freien Fall zu bremsen. Die Regierungspolitik hatte diesen Abwärtstrend durch Privatisierung und Ausgliederung, durch Förderung prekärer Beschäftigung und Aufwertung von Betriebsvereinbarungen zulasten des Flächentarifs so massiv beschleunigt, dass am Ende sie selbst eine Haltelinie ziehen musste.

Wenn Unternehmer gegenüber dem »Diktat des Staates« auf Tarifautonomie pochen, wollen sie die Arbeitsbedingungen selbst diktieren. So haben sie lange den Mindestlohn blockiert. Anfangs fremdelten aber auch viele DGB-Gewerkschafter damit, sei es aus Kompetenzgründen oder wegen der Befürchtung, eine gesetzlich sanktionierte Niedriglohngruppe werde in besser aufgestellten Branchen Anpassungsdruck nach unten zeitigen. Das aber ist insofern irreführend, als dass der Mindestlohn vor allem dort Bedeutung hat, wo keine Tarife mehr greifen oder Gewerkschaften zu schwach sind, in den untersten Lohngruppen halbwegs existenzsichernde Löhne durchzusetzen. Hier hat der Mindestlohn in der Tat und zum Guten bestehende Tarifverträge außer Kraft gesetzt.

Um die Tarifbindung zu stärken, verfolgen Union und SPD die fragwürdige Strategie, Abweichungen von gesetzlichen Standards zu erlauben - aber nur Betrieben mit Tarifvertrag. So enthält etwa das Gesetz zur sachgrundlosen Befristung eine Öffnungsklausel, wonach Arbeitsverträge nicht nur zwei, sondern bis zu fünf Jahre befristet werden dürfen. In der Leiharbeit darf per Tarifvertrag von dem Grundsatz »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« abgewichen oder vereinbart werden, dass Leiharbeitskräfte über die gesetzliche Höchstdauer von 18 Monaten hinaus bei einem Entleihbetrieb arbeiten. Die IG Metall hat diese Möglichkeit genutzt.

Auch für das Arbeitszeitgesetz gibt es zahlreiche Ideen. Vorangetrieben wird diese Entwicklung von der Kapitalseite, doch innerhalb der Gewerkschaften ist die Haltung nicht einheitlich. Hat die IG Metall vielleicht Grund, darauf zu vertrauen, dass sie in solchen Verhandlungen gegenüber dem gesetzlich Geregelten Verbesserungen erwirken kann, setzen solche Öffnungsklauseln schwächeren Gewerkschaften und Betriebsräten die Pistole auf die Brust.

In der Aushöhlung von Gesetzen und Tarifverträgen sehen die Kapitalverbände - so paradox wie zynisch - auch künftig den Schlüssel zur Stärkung der Tarifbindung. So fordert »Arbeitgeberpräsident« Ingo Kramer neben dem stärkeren Einsatz von Öffnungsklauseln auch die »Modularisierung« von Tarifverträgen. So könnten nicht-tarifgebundene Arbeitgeber Rosinen picken - nach dem Motto, das Entgelt nehm ich, die Arbeitszeitverkürzung spar ich mir. Zudem solle es leichter möglich sein, einzelne Bestandteile von Tarifverträgen - etwa Regelungen zur Arbeitszeit - auf betrieblicher Ebene anders zu regeln.

Setzt sich diese Entwicklung fort, könnten in 25 Jahren, wenn der nächste Geburtstag der Tarifautonomie begangen wird, wieder viel mehr Tarifverträge bestehen. Nur wären diese dann bloß noch ein Etikett, das nicht mehr hält, wofür Tarifbindung einmal stand: bessere Löhne und Bedingungen.

Ein anderer Weg würde die Gewerkschaften stärken, statt Tarifverträge nach Kapitalgeschmack zu konfektionieren. So fordert der DGB von der Bundesregierung, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen zu erleichtern, indem die gesetzliche Blockademacht der Kapitalverbände gebrochen wird. Auch eine erweiterte Nachwirkung von Tarifverträgen wäre ein Hebel, eine echte Tarifbindung zu fördern - wie auch wirksame Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen. Mit solchen Gesetzesänderungen könnte das Interesse der Arbeitgeberseite an tariflicher Partnerschaft dann schlagartig wieder erwachen.

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