Eine Anstalt der Seelenzertrümmerung

Theater Rudolstadt: Alejandro Quintana inszenierte Michael Bulgakows »Der Meister und Margarita«

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

In Michael Bulgakows »Der Meister und Margarita« (1928 begonnen, vollendet kurz vor seinem Tode 1940) spukt es. Die Leute in Moskau kommen nicht zur Ruhe. Die einen trumpfen auf, die anderen fühlen sich eingeengt, verfolgt. Wer sind die Übeltäter? Die merkwürdigsten Typen tauchen mal auf, mal verschwinden sie: Patienten, Pflegerinnen, Zensoren, Offiziere, Polizisten, Dichter, Literaturbeamte, selbstredend das Paar, der große Meister und die schöne Margarita (spät treten sie auf, auch im Roman), daneben Figuren aus Bibel und römischer Antike, sodann Finanzleute, Gestalten aus dem Vergnügungsbetrieb, eine Königin und eine Magd. Am Ende ziehen schaurige Wirbelwinde über die Stadt. Über fast alles gebietet souverän der Teufel, Volland geheißen. Er hält die Stadt im Griff.

Bulgakows Roman sah schon viele Bühnen. 2002 etwa brachte Frank Castorf »Der Meister und Margarita« auf die Berliner Volksbühne. Für Rudolstadt inszenierte Alejandro Quintana den »Meister« auf eine Fassung von Niklas Rådström (Übersetzung Steffen Mensching). Quintana war als junger Schauspieler 1973 vor der Pinochet-Junta aus Chile in die DDR geflohen.

Seine Arbeit glänzt vor Inszenierungseinfällen. Das ganze Ensemble lieferte eine blitzgescheite Partie. Das Stück adaptiert Montageprinzipien der frühen russischen Avantgarde: rasche Wechsel der Optiken, Gleichzeitigkeit verschiedener Dinge, Überblendungen etc. Ansteckend auch für das Bühnenbild (Bühne und Kostüme Henrike Engel). Mehrere Bühnenrahmen gehen zieharmonikaförmig auseinander hervor. Vorn ein rollendes, schwenkbares vertikales Geflecht auf Rädern, das Räume öffnet und schließt und Szenenwechsel nach Belieben ermöglicht. Auf Schließen liegt der Akzent.

Gespenstisch der Anfang. Hinter Schleiern marschiert symbolistisch Sowjetvolk mit Fahnen und Stalin-Transparenten und singt die orchesterbegleitete »Internationale«. Später entfahren den Mündern karger, abgearbeiteter Figuren (Klinikpersonal und andere) traurige russische Volkschöre (Einstudierung Thomas Voigt).

Mehrere Handlungsstränge durchdringen einander (fast alle Darsteller spielen mehrere Rollen). Einer führt zur Pilatus-Jesus Geschichte: wer brachte Jesus um? In Relation gesetzt mit dem »Pilatus«-Roman des Meisters. Ein weiterer in die Biografie des Autors. Messerscharf wurde gestritten unter Moskaus literarischen Himmel. Mehr noch zensiert und ausgegliedert aus dem Literaturbetrieb. Hauptfrage, funktionalistisch gestellt: wozu taugt Dichtung und Kunst in der neuen Gesellschaft? Derlei Debatten nahmen dem authentischen Bulgakow beinahe die Luft. Das Alte hielt sich zähe, als er an seinem Roman schrieb. Die Assessoren von einst saßen trotz siegreicher Revolution fest im Sattel. Die Revolution fraß an ihrem eigenen Projekt.

Jenes genannte Trio aus Teufel und Gehilfen feuert die Öfen an. Voland, mächtig der »schwarzen Magie«, gibt sich in Moskau als Ausländer aus. Matthias Winde kreiert den Dämon. Elegant wirkt er, dunkel aufgemacht mit Hut, wie Luther und Fugger sie trugen. Er protzt mit Immanuel Kant, den er gut kenne, und weiß auch sonst mit Köpfen fachgerecht umzugehen. Zuerst bringt er den Literaturbeamten durch die Fahrt einer Straßenbahn um seinen Kopf. Später fällt der des korrupten Varietéadministrator Warenucha (Johannes Arpe). Der Rimskaja, Finanzdirektorin (Ute Schmidt), stets um Ehrlichkeit bemüht, zaubert er Banknoten unter den Rock, sodass sie fortan als Betrügerin gilt.

Volland als Kraft, die stets verneint (Parodien auf Goethes »Faust« erscheinen mehrmals), assistieren zwei der angesehensten, weil abgefeimtesten Clowns der Weltliteratur: einmal Korowjew, Sporting-Life-Typ, unerhört agil auf die Bühne gesetzt von Johannes Geißer. Der kehrt aus ihm den scharfstimmigen, dreisten, zynischen Circustyp mit karierten Hosen heraus. Zum anderen der Kater Behemoth. Marie Luise Stahl in dessen Haut ist immer auf dem Sprung. Tiefschwarz das Menschentier, witzig und gallig und gemein und hinterhältig. Wo diese Dreieinheit erscheint, ist die Irrenanstalt nicht weit.

Von einer Wohnung, in Moskau lange Zeit die größte Rarität überhaupt, träumt der junge Dichter Besdomny (Benjamin Petschke). Auf der Bank streitet der Ärmste mit der Karikatur des Vorsitzenden der Moskauer Literaturvereinigung, Berlioz (Markus Seidensticker), der von Poesie nichts versteht, erhält Geistesschläge und landet unversehens in der Psychiatrie. Diese Anstalt der Seelenzertrümmerung führt der beinharte Doktor Strawinski (Verena Blankenburg) an, in steter Verbindung mit 2 ledernen, zupackenden Kriminalbeamten (Oliver Baesler, Andreas Mittermeier). Seine Losung: »Fürchtet euch nicht!«, es geht um die »Sicherheit«. Wie vertraut.

Quintana inszeniert von heutigem Wissen aus beispielhaft den »Thermidor« (Trotzki), den Umschlag der Revolution in die stalinsche Konterrevolution. Anlass genug, die Groteske bis ins Extrem zu wenden. Von außerordentlicher Wirkung die Ballszene gegen Ende, sie hält den Finger auf Wunden heutiger Zustände. Eigenes Erleben des Regisseurs wird kenntlich, als die Weltkugel wie die Seifenblase von Hand zu Hand segelt und Margarita, genötigt, die Königin des Balles zu spielen, auf den westlichen Rand von Südamerika tippt, Chile. Worauf eine Crew von Junta-Offizieren in Uniformen, wie sie die Schergen von 1973 in Chile trugen, weiß vermummt, zackig, die Arme wiederholt zum Hitlergruß hochschlagend, ihren Tanz aufführen. Donnernde Klänge dazu. Ein szenischer Katarakt.

Am Meister offenbart sich der tiefere Sinn des Stücks. Marcus Ostberg setzt in jene faustische Figur die Tragik eines Schriftstellerlebens zu Beginn der Stalin-Zeit. Groß die Furcht, das Manuskript seines Romans »Pontius Pilatus« könnte verhaftet werden. Ins Kostüm eines Spitalinsassen gesteckt, darf er den Schlüssel besitzen, der ihm einen Spalt Freiheit ermöglicht und zu Margarita führt (Anne Kies).

Sinnfällig dazu stehen Szenen mit Pilatus (Johannes Arpe), dem Hohepriester Kaiphas (Ute Schmidt), dem Evangelisten Levi Matthäus (Oliver Baeseler) und Jeshua (Andreas Mittermeier). Sie führen in die biblisch-römische Sphäre und stellen dem eher gelangweilten, gleichgültigen Pilatus einen ausgemergelten, opferbereiten, zuletzt am Boden liegenden Jeshua (Jesus) gegenüber.

Für Voland soll letztlich alles in die Luft gehen. Seht, wie das Literaturhaus brennt, entfährt es feierlich den drei Hälsen, das Haus des Innenministeriums falle auch gleich in Trümmer und dem Kulturkommissar Latunski (Marcus Muribellum) gehe es an den Hals. Alle und alles sucht Voland mit seinen Gehilfen zu überwältigen, allein die Titelfiguren und den jungen Dichter kriegt er nicht zu packen. Zuletzt liest der einsitzende Besdomny aus dem »Pilatus«-Manuskript. Niemand ist bei ihm. Doch plötzlich kommen nach und nach aus allen Ecken Leute mit dem weißen Textbuch des Romans in der Hand. Eine Hoffnung, die einzige im Stück.

Nächste Aufführungen: 1. und 2. Dezember

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