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Eine Wunderkammer

Judith Schalansky gelang ein ebenso poetisches wie politisches Buch

  • Holger Teschke
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wer die Zukunft kontrollieren will, muss die Vergangenheit abschaffen.«, schreibt Judith Schalansky im Vorwort ihres neuen Buches und fährt fort: »Wer sich zum Urvater einer neuen Dynastie ernennt, zur Quelle aller Wahrheit, muss das Gedenken an seine Vorgänger auslöschen und alles kritische Denken verbieten.« Hier bezeichnet die Autorin schon zu Beginn den Punkt, an dem ihr »Verzeichnis einiger Verluste« im Diskurs über die Krise der westlichen Welt und ihres angeblichen Wertekanons an ein Tabu rührt: das Mantra vom Segen des Fortschritts und der Notwendigkeit des unaufhörlichen Wachstums.

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Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste.
Suhrkamp, 252 S. m. 12 Bildtafeln, geb., 24 €; Hörbuch: Der Audio Verlag, 6 CDs, 22 €.

Wenn der Quin-Kaiser im 2. Jahrhundert vor Christi noch Bücher verbrennen musste, um seine ewigen Wahrheiten gegen Kritik zu behaupten, so haben die Damen und Herren vom Silicon Valley längst gelernt, dass sich so etwas mit Informationsüberflutung viel effektiver erledigen lässt. Es ist von Hegel’schem Witz, wenn heute einige Founding Fathers des Internet davor warnen, dass die digitale Revolution, die als wahrer Beginn globalen Fortschritts so kritiklos gefeiert wurde wie seinerzeit die Atomkraft, eine ähnliche Zerstörungskraft zu entfalten beginnt.

Die 1980 in Greifswald geborene Autorin geht mit einem kulturgeschichtlichen Weitblick und Humor zu Werke, den die aktuelle Debatte weitgehend vermissen lässt. Ihre Verlustliste verzeichnet unter anderem die verschwundene Südsee-Insel Tuanaki, den ausgerotteten Kaspischen Tiger, einen verloren gegangenen Film von F. W. Murnau, die Fragmente von Liebesliedern der Sappho, die verschollenen sieben Bücher des Religionsgründers Mani, Caspar David Friedrichs verbranntes Gemälde »Hafen von Greifswald«, den abgerissenen Palast der Republik in Berlin und die nach seinem Tod verschwundenen Mondzeichnungen des Suhler Pfarrers Gottfried Adolf Kinau.

Ihr enzyklopädischer Blick reicht von den Weiten des Stillen Ozeans bis zum Mond. Dabei lässt sie das Verschwundene an ungewöhnlichen Orten und zu fantastischen Zeiten noch einmal auftreten: die Kaspische Tigerin im Todeskampf mit einem Löwen im römischen Kolosseum des Kaisers Claudius, Guerickes Einhorn als Objekt für eine »Naturgeschichte der Monster«, die in den Walliser Alpen begonnen werden soll, F. W. Murnaus verschollenem Film »Der blaue Knabe« in den Erinnerungen von Greta Garbo, die bei einem Morgenspaziergang durch das kalte Manhattan von einer verpassten Zusammenarbeit und Liaison mit dem tödlich verunglückten Regisseur träumt und den Palast der Republik als Ort eines Treuebruchs im Berlin der 1980er Jahre.

Kurzen Vorbemerkungen zu den gesammelten Verlusten folgen so Prosatexte, die in teils erzählerischer, teils essayistischer Form diese Wunderkammern des Verschwundenen kommentieren und ergänzen. Es sind historische Momentaufnahmen von der Antike bis zum Ende des 20. Jahrhundert, die in präzise recherchierten und fantasievoll erfundenen Details das Verlorengegangene noch einmal aufscheinen lassen.

Es ist aber auch ein autobiografisches Buch mit Erinnerungen an Herkunft und Heimat und erheiternden Ausblicken in die Zukunft. »Wer einmal wie ich den Bruch der Geschichte erlebt hat, den Bildersturm der Sieger, die Demontage der Denkmäler, dem fällt es nicht schwer, in jeder Zukunftsvision nichts anderes als eine zukünftige Vergangenheit zu erblicken, in der beispielsweise die Ruine des wiederaufgebauten Berliner Stadtschlosses einem Nachbau des Palasts der Republik wird weichen müssen.«

Judith Schalansky hat auch dieses Buch wieder selbst gestaltet und jedem ihrer Texte ein schwarzes Blatt vorangestellt, das man ins Licht halten muss, um eine Ahnung von den Konturen des Verschwundenen zu bekommen. Ganz nebenbei hat sie ein Zahlenspiel mit Kapiteln und Seiten eingefügt, das an Dürers magische Tafel im »Melencolia«-Stich erinnert und das die Leser selber finden müssen. »Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden«, lautet das Credo ihres Buchs. Dem Mythos von den angeblich namenlosen Mächten, die den Gang der Geschichte und der Märkte beherrschen, setzt sie Namen und Anschriften entgegen. Das macht diese Miniaturen der Erinnerung zu einem ebenso poetischen wie politischen Kunstwerk.

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